Neue Herausforderer

Die globale Venture Capital Community eilt von einem Finanzierungsrekord zum nächsten. Noch nie gab es so viel Geld für junge Unternehmen und ihre Ideen. Doch was bedeutet das für deutsche Startups und etablierte Traditionsunternehmen?

Die Sand Hill Road im kalifornischen Menlo Park ist ein legendärer Ort. Hier sitzen in unscheinbaren Häusern einige der renommiertesten Risikokapital-Firmen. Unzählige Startup-Gründer:innen haben schon die Klinken geputzt, warben Geld ein für Suchmaschinen, Bezahlsysteme, für selbstfahrende Autos - und vielleicht in dieser Sekunde für das nächste große Ding. Denn noch nie gab es so viel Venture Capital (VC) wie heute: Mit 288 Milliarden Dollar war die Investitionssumme im ersten Halbjahr 2021 fast doppelt so hoch wie im Vorjahreszeitraum. Am Ende werden 2021 wohl rund 600 Milliarden Dollar investiert worden sein – zehnmal so viel wie vor zehn Jahren. Das ist gut, denn mehr Kapital für gute Ideen bedeutet mehr Wettbewerb und mehr Innovation.

Ein Trend ist auffällig: Die jahrzehntelange US-Dominanz im VC-Sektor geht zurück. 51 Prozent des Investitionsvolumens fließt inzwischen außerhalb der USA. Auch in Europa gibt es große Deals und Unicorns. Davon profitieren nicht zuletzt auch Gründer:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im dritten Quartal 2021 konnten Startups in Deutschland rund vier Milliarden Euro von Investor:innen einsammeln, im ersten Halbjahr 2021 waren es insgesamt über sieben Milliarden Euro – mehr als im gesamten Vorjahr.  

Für Traditionsunternehmen wird das Folgen haben. Sie müssen sich auf weiter steigenden Wettbewerbsdruck von gut finanzierten Startups und Scaleups mit globalen Ambitionen einstellen. Digitalisierung und Daten werden immer größerer Bestandteil auch industrieller Wertschöpfung – eine große Chance für Unternehmer:innen mit neuem Blick auf alte Industrien. Bekanntestes Beispiel: Tesla. Nicht General Motors oder Toyota wurden zum größten Herausforderer von Daimler, BMW und Volkswagen, sondern der anfangs belächelte Aufsteiger aus den USA.

Aber es gibt auch Chancen. Startups im B2B-Umfeld brauchen die Nähe zu ihren Kunden. Es ist kein Zufall, dass in Deutschland insbesondere Startups im industriellen Umfeld von dem jüngsten Aufschwung profitieren. Die europäische Industrie kann das nutzen – als Lead-Kunde, als Kooperationspartner und als Investor.

Das wiederum hilft der Startup-Community. Denn die etablierten Player verfügen über bedeutsame Stärken, die Grundlage für neue, innovative Geschäftsmodelle sein können und Newcomern oft fehlen. Traditionsunternehmen verfügen über ein tiefes, oft über Jahrzehnte aufgebautes Wissen, etablierte Marken, intensive Kundenbeziehungen und nicht selten relevante Daten. Diese Ressourcen sind ein Wettbewerbsvorteil, den Startups nicht einfach kopieren können. Nutzen wir ihn!

Stefan Gross-Selbeck
...ist Global Managing Partner bei BCG Digital Ventures, einem Tochterunternehmen der Boston Consulting Group, das gemeinsam mit weltweit führenden Konzernen digitale Geschäftsmodelle und Start-ups entwickelt, baut und skaliert.

Was also ist zu tun? Traditionsunternehmen müssen den Markt jenseits ihrer lange bekannten Wettbewerber noch besser beobachten und verstehen sowie fähig und willens sein, mit Startups und Scaleups zu kooperieren. Das kann durch Corporate Business Building geschehen oder durch Finanzierungsrunden und Akquisitionen. Eigene, unabhängige Innovationsteams, die über den Tellerrand hinaus an „Moonshots“ tüfteln, können ebenfalls geeignet sein.

Gleichzeitig müssen etablierte Unternehmen vielfach ihre Kultur und ihre Prozesse anpassen. Agilität und Kundenorientierung dürfen keine Schlagwörter bleiben, sondern müssen in echter Veränderung, etwa im Sinne einer Plattform-Organisation resultieren. Das ist existentiell – denn den neuen Wettbewerb der Startups werden die Unternehmen auch an anderer Stelle spüren: bei der Gewinnung von Talenten. Noch nie war das Gründen bei Top-Talenten beliebter als heute. Und die Generation der Millennials erwartet Entwicklungschancen - da haben Startups gute Karten.

Ich wünsche mir eine neue Sand Hill Road in Berlin, Wien oder Zürich. Die Chance dafür war nie größer.

Opinions expressed by Forbes Contributors are their own.
Gastkommentar: Stefan Gross-Selbeck

Dieses Gastkommentar erschien in unserer Ausgabe 10–21 zum Thema „30 Under 30“.

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