New York, die verunsicherte Stadt

New York ist nach wie vor eine der sichersten amerikanischen Städte. Trotzdem fühlen sich viele Menschen dort nicht mehr sicher – aber das tatsächliche Sicherheitslevel ist sehr ungleich verteilt.

Ein 26 Jahre alter Polizist will ein Auto kaufen, mit Tausenden US-$ Bargeld in der Tasche soll er in einer armen Gegend von Brooklyn den Ver­käufer treffen – Unbekannte schießen auf ihn, er kämpft im Krankenhaus um sein Leben. In der Bronx schlägt ein Mann eine 63-jährige Frau auf der Straße, mehrere Polizisten verfolgen ihn – als er eine Waffe zieht, feuern die Cops, der Mann wird schwer verletzt. Eine 20-jährige Frau wird mit mehreren Schusswunden in ein Krankenhaus in der Bronx eingeliefert – nach dem flüchtigen Täter wird gesucht. Wer an einem beliebigen Tag in die New Yorker Boulevard­zeitung New York Post schaut, wird meist mehrere ähnliche Geschichten finden – samt markigem Urteil gleich dazu: „Schlechte Menschen“ prangt in Rot über dem ersten Fall. Das Blatt gehört zu jenen Medien, die nicht müde werden, eine „Kriminalitätswelle“ in der Metropole an der US-Ostküste zu beklagen. Umfragen liefern dazu Stimmungsbilder von Bürgern, die sich weniger sicher fühlen als noch vor ein paar Jahren.

So wird dieser Tage in New York wieder viel über das Thema Sicherheit diskutiert – über die subjektiv empfundene Sicherheit und über das, was die Statistiken sagen. Tatsächlich registrierten die Behörden im vergangenen Jahr einen 22-prozentigen Anstieg schwerer Straf­taten, vor allem von Diebstahl und Raub; die Schusswaffendelikte gingen allerdings deutlich zurück. New York landet in der aktuellen Liste der sichersten Großstädte der USA, die der Finanzdienst Moneygeek jährlich veröffentlicht, auf Platz fünf – noch vor Boston. Die Liste rankt jährlich die durch Straftaten verursachten Kosten. Bei der Mordrate kommt New York auf 5,5 Fälle pro 100.000 Einwohner und ist damit eine der sichersten amerikanischen Großstädte. Zum Vergleich: In St. Louis liegt die Quote bei 66,5, in Detroit bei 47,9 und in Philadelphia immerhin noch bei 34,8 Tötungsdelikten pro 100.000 Menschen.

„Die Wahrnehmung einer um sich greifenden Kriminalität hat vielleicht nirgendwo sonst so die Realität überwältigt wie in New York City“, schrieb der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloom­berg kürzlich. Im vergangenen Jahr sagten in Umfragen viele New Yorker, dass ihre Angst vor Straftaten sie von der Rückkehr aus dem Home­office ins Büro abhalte – mehr Menschen nannten diesen Grund als die Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus.

Drei Viertel der New Yorker gaben in einer Befragung der Quinnipiac University vom Feb­ruar 2022 an, dass Kriminalität ein „sehr ernstes Problem“ in ihrer Stadt sei. Der Wert war der höchste seit 1999 – damals war die Mordrate in der Stadt 50 % höher als heute, aber nur 35 % der Einwohner zählten Straftaten zu den dringendsten Problemen. Die Berichte über ein vermeint­liches „Ende“ der guten Zeiten in New York häufen sich trotz der komplexeren Zahlen. Laut der Agentur Medialab gab es vor Januar 2022 durchschnittlich monatlich 132 journalistische Beiträge über Kriminalität in New York, seitdem seien es fast 800 im Monat. Des Öfteren werden in nationalen und internationalen Medien Bürger interviewt, die zum Beispiel Selbstverteidigungstechniken lernen oder sich Waffen besorgen, weil die Stadt so gefährlich geworden sei – meist leben die Interviewten in Gegenden, die man generell als wohlhabend bezeichnet.

Die Menschen, die statistisch am häu­figsten Opfer von Straftaten werden, leben jedoch meist nicht dort. In New York City gibt es 77 Polizei­bezirke, und in zehn davon konzentriert sich ein Viertel aller erfassten Straftaten. Vergangenes Jahr führte das 75. Revier die Negativ­statistik an – es liegt in East New York in Brooklyn, wo die Hälfte der Einwohner an oder unter der Armutsgrenze lebt. Dort waren alle Faktoren, die den Anstieg der Straftaten begünstigten, am stärksten ausgeprägt: mehr Coronatote, schlechtere medizinische Versorgung, höhere Arbeits­losigkeit. Die Menschen haben öfter mit Gewalt und Schusswaffenkriminalität zu tun, aber gerade der Polizei trauen viele nicht zu, sie zu schützen. Ihr Misstrauen ist begründet, denn Straftaten mit Opfern, die nicht weiß sind, haben eine deutlich geringere Aufklärungsquote. Hinzu komme die Gewalt durch Polizisten, die etwa Schwarze überproportional treffe, sagt Anna Harvey, die an der New York University das Public Safety Lab leitet. Die Wissenschaftler dort untersuchen, wie in den vergangenen Jahrzehnten mit Polizeigewalt umgegangen wurde und wo sich Fehlverhalten von Polizisten besonders stark zeigt. Die Befunde seien „verstörend“, so die Professorin: In New York haben demnach Menschen, die nicht weiß sind, ein deutlich höheres Risiko, Opfer polizei­lichen Fehlverhaltens zu werden – und Revier 75 führt auch hier die Statistik an.

„Eines von vielen Problemen ist, dass es keine bundeseinheitlichen Regeln für das Ver­halten der Polizei oder für den Umgang mit Fehlverhalten gibt“, sagt Carmen Perez, die die von Harry Belafonte gegründete Bürgerrechts­organisation „The Gathering for Justice“ leitet. Außerdem kämen Polizisten häufig nicht aus der Nachbarschaft, in der sie arbeiten, und bauten keine echten Beziehungen zu den Bewohnern auf. Zu den zahlreichen Problemen gehöre auch, dass Kinder in der Schule von der Polizei beaufsichtigt und in Arrest genommen werden können – Wissenschaftler nennen die Dynamik, die durch frühe Kriminalisierung entsteht, die „school to prison pipeline“. Schwarze Jugend­liche sind auch davon überproportional betroffen: Polizeimaßnahmen gegen Schüler betreffen zu 31 % Afroamerikaner, während ihr Anteil an der Bevölkerung etwa 13 % ausmacht.

In New York demonstrierten viele Menschen nach dem Polizeimord an George Floyd im Mai 2020 noch monatelang weiter, als die Medien­aufmerksamkeit längst nachgelassen hatte. Die Diskussion über Reformen der Polizei reicht viel weiter zurück als bis 2020, und ebenso die Forderung, die Polizei in ihrer jetzigen Form abzuschaffen oder finanziell massiv zu verkleinern (bekannt unter dem Slogan „Defund the police“). Die Stadtverwaltung verstärkte die Datensammlung über Polizeiverbrechen, die Anwendung von Gewalt soll nur noch „letztes Mittel“ bei der Verbrechensbekämpfung sein. All das sei zu wenig, wenn sich an der grundsätz­lichen Struktur der Polizeiarbeit nichts ändere, sagt Janice Johnson Dias, die Soziologie am John Jay College of Criminal Justice lehrt. Die Stadt müsse aufhören, Milliarden ins Polizeibudget zu stecken, während in sozialen Bereichen gekürzt werde. In Bürgermeister Eric Adams’ jüngstem Haushaltsplan bleibt der Topf für die Polizei mit mehr als fünf Mrd. US-$ stabil, während etwa im Bereich Bildung und bei Bibliotheken gespart werden soll. In New York kann von „Defund the police“ also erst einmal keine Rede sein.

Den Kritikern hält die Regionalregierung von New York jüngste Gesetzesinitiativen zur Polizeireform entgegen. Der damalige Gouverneur Andrew Cuomo hatte die Polizeibehörden im August 2020 per Verordnung aufgefordert, Reformpläne einzureichen. Dabei gibt es erhebliche regionale Unterschiede: Manche Verwaltungen führten Ausbildungseinheiten zu Rassismus ein oder stockten das Budget für Sozialarbeiter auf, andere achten seit den Protesten stärker darauf, dass sie mehr Beamte einstellen, die keine weißen Männer sind. Der Tod von Tyre Nichols in Memphis Anfang Januar rief allerdings in Erinnerung, dass das Problem nicht allein in individuellem Rassismus einzelner Polizisten zu suchen ist – Nichols wurde von schwarzen Cops zu Tode geprügelt.

„Die Wahrnehmung einer um sich greifenden Kriminalität hat vielleicht nirgendwo sonst so die Realität überwältigt wie in New York City.“ Bloomberg News

Es sind oft nicht die Einstellungen Einzelner, die Schwarze zu Opfern machen. Wenn von einer rassistischen Struktur des Justiz- und Polizeiapparats die Rede ist, sind auch vielfältige Anreize gemeint, Menschen in ärmeren Stadtteilen stärker zu überwachen und zu verfolgen. Menschen, die nicht weiß sind, werden so öfter Opfer von Gewalt durch Polizisten, aber sie werden auch allgemein härter für die gleichen Delikte verfolgt und bestraft als Weiße. Auch da, wo das System funktioniert, wie es gedacht ist, treten Wissenschaftlern zufolge diese Effekte ein. Ein Beispiel: Die obersten Sheriffs eines Polizeibezirks sind meist Wahlbeamte. Wahlkämpfe führen sie häufig mit dem Versprechen höherer Sicherheit. Da zahlt es sich besonders bei konservativen Wählern aus, wenn ein Polizeichef viele Verhaftungen vorweisen kann. Hinzu kommt in vielen Revieren eine ausgeprägte Belohnungskultur – wer viele Festnahmen zu verzeichnen hat, bekommt Vergünstigungen oder schneller Beförderungen.

In der Stadt New York wird der oberste Polizeichef nicht direkt gewählt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es die strukturell rassistischen Anreize nicht gibt, die unabhängig von individuellem Hass funktionieren. So sei es zum Beispiel viel einfacher und für Beamte weniger gefährlich, Menschen wegen sogenannter „Quality of Life“-Vergehen zu belangen, als Gewaltverbrecher dingfest zu machen, sagt Professorin Johnson Dias. „Öffentliche Ärgernisse“ und Vergehen, die die „Lebensqualität“ anderer Einwohner beeinträchtigen sollen, sind zum Beispiel Trunkenheit oder Drogenkonsum in der Öffentlichkeit. Aber auch der Sprung über die Eintrittsschranke in der U-Bahn, zu laute Musik auf der Straße, das nicht genehmigte Verkaufen von Essen in U-Bahn-­Stationen oder „illegal“ aufgestellte Tische zum Dominospielen können New Yorker Cops den Tag über beschäftigen. Die Verfolgung wegen solcher Vergehen trifft statistisch überwiegend Einwohner ärmerer Nachbarschaften in der mehrheitlich nicht weißen Stadt.

Für die gegenwärtige Sicherheitsdebatte spielt auch eine Rolle, dass sich die Sichtbarkeit von Armut seit der Pandemie etwas verlagert hat. Die Verwaltung brachte zum Beispiel zeitweise Tausende Obdachlose in Hotels in Manhattan unter – es dauerte nicht lange, bis sich Einwohner beklagten. Andere Menschen schlafen auf der Straße oder in den U-Bahnen. Die Kampagne des Bürgermeisters, Obdachlosen-Camps gewaltsam aufzulösen, soll wohl auch das „Sicherheits­empfinden“ der Bürger ansprechen. Die sicht­baren Folgen von Armut – mangelnde Hygiene, Krankheit, Betteln, Drogenkonsum – bringen viele Menschen schließlich mit Kriminalität und mit einer Bedrohung für sich selbst in Verbindung. Der Zuspruch so eingestellter Bürger ist ein weiterer Anreiz für Polizisten, die „quality of life crimes“ massenhaft zu verfolgen.

Text: Frauke Steffens
Fotos: Eric Zajac, Chris Henry, Nathan Dumlao, unsplash.com

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