(NIEDER-)ÖSTERREICHS GRAVITATIONSZENTRUM

Die Coronavirus-Krise brachte die Rolle der Wissenschaft wieder in die öffentliche Debatte. Doch der neue Fokus wirft eine alte Frage auf: Wie lässt sich Spitzenforschung in Europa ermöglichen? Und wie viel Wettbewerb braucht Wissenschaft? Wir sprachen mit Europaministerin Karoline Edtstadler und IST-Austria-Präsident Thomas Henzinger über exzellente Trägerraketen und besondere Sogwirkung.

Es ist ein ungewöhnlicher Ort, an dem wir an diesem ­Freitagmorgen über Spitzenforschung und ihre ­Förderung sprechen wollen. Doch in Maria Gugging vor den Toren Wiens befindet sich eine der führenden Forschungseinrichtungen Europas: das Institute of Technology and Science (IST) Austria. 2006 gegründet – und auf Initiative des ehemaligen Landeshauptmanns Erwin Pröll in Niederösterreich angesiedelt –, ­fokussiert sich das IST nach Vorbild des israelischen Weizman-Instituts auf erstklassige Arbeit im Bereich der Grundlagenforschung.

Zwar gibt es auch hier fast 250 Studierende in postgradualen Lehrgängen, doch das IST ist de­zidiert keine Universität. Ungewöhnlich für die österreichische Forschungslandschaft genießt es den Luxus, langfristige Finanzierungszusagen mit völliger Unabhängigkeit im Tun zu paaren. Es scheint zu funktionieren: 850 Personen aus 60 Ländern sind ­heute in 60 Forschungsgruppen am IST tätig. Bis 2036 sollen es, geht es nach Präsident Thomas Henzinger, 150 Forschungsgruppen werden.

Henzinger ist seit 2009 Präsident am IST. Der Informatiker verbrachte einen Großteil seiner Karriere in den USA, promovierte etwa an der Stanford University, bevor er 2008 nach Österreich zurückkehrte, um die Leitung des IST zu übernehmen. Neben Henzinger hat im Garten des wunderschönen IST-Campus aber eine zweite Gesprächspartnerin Platz genommen: Europaministerin Karoline Edtstadler. Denn es soll eben nicht nur um Wissenschaft gehen, sondern auch um die Rolle des Staates bei ihrer Förderung.

Und Edtstadler, die in der ­aktuellen österreichischen Bundesregierung neben Verfassungsagenden auch das Thema Europäische Union verantwortet, kommt mit Wissenschaft insbesondere auf europäischer Ebene in Berührung – eben dann, wenn es darum geht, Gelder für die Forschung zu verhandeln. Wenig überraschend geht es zu Beginn um das Coronavirus: Hat die Pandemie das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt? Henzinger: „Das ist eine gute Frage. Wir wissen ganz genau, dass wir dieses Virus besiegen werden. Warum? Wegen der Wissenschaft. Wir sind also in einer Situation, wo man der breiten Bevölkerung den Wert der Wissenschaft verdeutlichen kann. Doch dieser Wert ist nicht immer so einfach zu kommunizieren.“ Die Wissenschaft arbeite langfristig und mit komplexen Prozessen.

Dass sich die Wissenschaft nicht einig sei, sei falsch, der Prozess zur Meinungsbildung sei nur langwierig. „Es macht aber keinen Sinn, in wissenschaftlichen ­Fragen alle Seiten zu hören. Es gibt eine wissenschaftliche Methode, auf ­Basis derer sich ein breiter Konsens finden lässt. Dieser ist kein Zufall, sondern beruht auf oft mühsamen, evidenzbasierten Prozessen.“

Edtstadler antwortet auf die Frage, ob die Pandemie das Vertrauen in die Wissenschaft gestärkt habe, so: „Der Fokus hat sich geändert, die Aufmerksamkeit für die Wissenschaft ist größer geworden, und die Notwendigkeit, zu kooperieren, hat auch international in der Politik einen viel höheren Stellenwert bekommen.“

Inwiefern die Forschung in der österreichischen Politik in der Vergangenheit wertgeschätzt ­wurde – darüber lässt sich vortrefflich streiten. Geld ist jedenfalls da: Im letzten Jahrzehnt stiegen die Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) in Österreich um rund 65 %, 2019 betrugen sie 12,8 Milliarden € – 3,19 % des Brutto­inlandsprodukts. Im ­europäischen Vergleich liegt Österreich damit auf Platz zwei hinter Schweden, das auf eine F&E-Quote von 3,4 % kommt. Auch die Schweiz kommt auf diesen Wert. ­International sticht vor allem Südkorea (4,55 %) heraus, Länder wie Japan (3,2 %), die USA (2,79 %) oder ­China (2,13 %) liegen wie Deutschland (3,02 %) teils deutlich ­hinter den österreichischen Ausgaben (­gemessen an der Wertschöpfung).

Gleichzeitig lassen die Ergebnisse aber zu wünschen übrig: Im Global Innovation Index bewegt sich Österreich seit Jahren kaum von der Stelle (zuletzt Rang 21), ­unter den besten Universitäten der Welt finden sich Institutionen aus den USA, Schweden, der Schweiz und Deutschland – die ­Universität Wien ist als bestplatzierte Institution in Österreich jedoch weit von den Spitzenrängen entfernt. Im QS World University Ranking kam sie zuletzt auf Platz 150. Und: Die Grundlagenforschung wird nach Meinung vieler zu wenig berücksichtigt.

„Die Wissenschaft ist die Trägerrakete dafür, dass wir gut und in vielen Dingen hoffentlich auch Weltspitze sein können“, so Europaministerin Karoline Edtstadler.

Henzinger: „In Österreich gibt es den Ansatz, dass alle Universitäten in allen Belangen gleichermaßen exzellent sein müssen. Das führt dazu, dass das Geld gleichmäßig verteilt wird. In der Wissenschaft ist das aber keine gute Idee. Es ist nichts mehr rausgeschmissenes Geld als mittelmäßige Grund­lagenforschung.“ Überspitzt formuliert heißt das: Wer nicht Erster ist, kann sich die Grundlagenforschung sparen – Exzellenz kostet aber. Das zeigt sich auch am IST: Das Institut, das zuletzt in einem Ranking des renommierten Wissenschaftsmagazins Nature auf Rang drei aller Forschungseinrichtungen weltweit landete („Nature Index“), erhält für den Zeitraum von 2006 bis 2026 insgesamt rund 1,8 Milliarden € öffentliche Gelder. Ein Teil davon – und das ist eines der Erfolgsrezepte – ist an die Einwerbung von Drittmitteln und die Erfüllung von Qualitäts­kriterien gebunden.

Henzinger kritisiert daher – wenn auch mit einem unschuldigen Lächeln – die Arbeit der Politik: „Wir können vieles besser machen. Wenn man auf Österreich schaut, brauchen wir einen größeren Anteil an kompetitiver Forschungsförderung und mehr für den FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Anm.). Auf ­Europa schauend bin ich nicht glücklich mit dem geplanten Budget für Forschung.“ Doch für Edtstadler, die in diesem Bereich die Verhandlungen in der EU für Österreich ­führte, ist die Ausgangslage eine ganz ­andere. Auf EU-Ebene geht es stets ­darum, Geld möglichst gerecht auf ­viele Empfänger zu verteilen. Spitzen­institute in einem Mitgliedstaat zu fördern, während andere leer ausgehen, wäre im Konsensprinzip der EU keine einfache Diskussion. Sie verweist daher auf die große ­Vision: „Mit ‚Horizon Europe‘ haben wir ­einen Rahmen von fast 80 Milliarden € geschaffen. Die Details werden natürlich noch verhandelt: Was geht in Grundlagenforschung, was geht in Markteinführungen, was ist für innovative Technologie vorzusehen?“

„Horizon Europe“, das EU-Forschungsförderungsprogramm, folgt dem Vorgänger „Horizon 2020“ und wurde Anfang ­Oktober von den Wissenschaftsministern der EU formal beschlossen. Es gilt im Zeitraum von 2021 bis 2027, soll 100.000 Arbeitsplätze schaffen und weitgehend proportional auf die Staaten aufgeteilt werden. Die deutsche Wissenschaftsministerin Anja Karliczek sprach von einem erreichten Meilenstein, Edt­stadler nutzt eine andere Metapher: „Die Wissen­schaft ist die Trägerrakete dafür, dass wir gut und in vielen Dingen hoffentlich auch Weltspitze sein können.“

Dabei gab es rund um die ­Ver­handlungen viel Kritik. Vor Ausbruch der Coronapandemie wurde ein Finanzierungsrahmen von 94 Milliarden € diskutiert, das Europäische Parlament hatte sogar 120 Milliarden € gefordert, um mit den Forschungsausgaben in den USA und China mithalten zu können. Edt­stadler: „Natürlich kann man immer sagen, man wünscht sich noch mehr. Geld ist das eine, das andere ist, Vertrauen aufzubauen und einen Standort in Österreich und ­Europa zu schaffen, an den Forscher ­gerne kommen und an dem sie auch ­gerne bleiben.“

Henzinger stört sich vor allem an den Mitteln der Grants des European Research Council (ERC). Der ERC fördert Grundlagen­forschung in Europa – und zwar in der ­Spitze. Henzinger: „Der ERC hat Europa ­einen wirklichen Kick in der Grundlagenforschung gegeben, hat es erleichtert, mit dem traditio­nell starken Nordamerika zu konkurrieren, und viele Forscher zurück nach Europa geholt.“ Dass Henzinger die Initiative lobt, ist angesichts der Zahlen nicht verwunderlich: Das IST hat eine enorm hohe Erfolgsquote bei seinen Anträgen: Im Zeitraum 2007 bis 2017 lag das Ins­titut mit 48 % bei der Einwerbung von Grants vor allen anderen Institutionen, die mindestens 30 ERC-Grants haben. Doch im Rahmen von „Horizon Europe“ steigen die Mittel, die dem ERC zur Verfügung stehen, ­lediglich um die Inflation. Laut Henzinger gehen jedoch die ­Anträge nach oben – zuletzt im Jahres­vergleich um rund 42 % –, was die ­Erfolgschancen verringert.

Im Gespräch wird deutlich, wie komplex eine Verknüpfung der Positionen ist: Während Henzinger fordert, dass die Besten der Besten Forschungsgelder bekommen – also mehr Wettbewerbsprinzip in Österreich und Europa –, hat Edtstadler die Aufgabe, Interessen zu balancieren und die Gleichberechtigung der EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Ganz zum Schluss nennt Henzinger auf die Frage, was er denn als Politiker tun würde, eine Idee, die auch die Europaministerin wohl ohne Zögern unterschreiben würde: „Wo gute Wissenschaftler sind, da wollen mehr gute Wissenschaftler hin, da wollen Unternehmen hin, da wollen Start-ups hin. Es kann nicht Dutzende solcher Gravitationszentren in Europa geben, das gibt die Anzahl von Spitzenforschern nicht her. Es wäre also eine sehr weise ­politische Entscheidung, den Großraum Wien zu einem solchen Gra­vi­tationszentrum zu machen, das dann eine Sogwirkung entwickelt.“

Text: Klaus Fiala
Fotos: David Visnjic

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 10–20 zum Thema „Handel“.

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