Olfaktorische Formeln des Erfolgs

„La vie est belle“ und „Libre“ gehören zu den international erfolgreichsten Damendüften. Komponiert wurden sie von Anne Flipo, Master Perfumer bei International Flavors & Fragrances (IFF). Ihre Düfte bewegen sich regelmäßig im achtstelligen Umsatzbereich – doch Flipo lenkt den Fokus lieber auf die Handschrift eines Dufts als auf ihren eigenen Namen.

Aufgewachsen in Nordfrankreich entdeckte Anne Flipo ihre Leidenschaft für Düfte im Garten ­ihrer Kindheit. Ursprünglich jedoch ohne direkten ­Bezug zur Parfümwelt entschied sie sich 1981 für ein Studium an der renommierten ISIPCA in Versailles, einem der weltweit führenden Ausbildungszentren für Parfümerie. Nach dem ­Abschluss sammelte sie erste Erfahrungen bei kleineren Duftfirmen, bevor sie 2004 zu Inter­national Flavors & Fragrances (IFF) wechselte. Seit 2019 trägt sie dort den Titel „Master Per­fumer“ – eine Auszeichnung, die weltweit nur wenige erhalten. Flipo ist heute, im festen Angestelltenverhältnis, kreative Schlüsselfigur hinter ikonischen Duftkompositionen, Mentorin, Teamleiterin und offizielle Markenbotschafterin eines Konzerns mit über 24.000 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von mehr als elf Mrd. US-$ (2023). Der US-Duftriese zählt zu den drei führenden Playern im globalen Duftmarkt, der von nur rund zehn Dufthäusern dominiert wird.

Mit „La vie est belle“ (Lancôme) und „Libre“ (Yves Saint Laurent) übertraf der Geschäfts­bereich L’Oréal Luxe zuletzt das Wachstum des globalen Luxuskosmetikmarkts. Beide Düfte zählen im Segment Fragrance zu den umsatzstärksten im Portfolio. „Ein Duft ist ein Produkt, das Emotio­nen erzeugen muss – aber auch skalierbar sein und ein Profil haben muss, das in Paris, São Paulo und Seoul funktioniert“, so Flipo. Der kreative Prozess beginnt meist mit einem Briefing: Ein Kosmetikkonzern – ob Nischenmarke oder Global Player – präsentiert seine olfaktorischen, emotionalen oder visuellen Ziele. Auf dieser Basis entwickelt das Parfümeur-Team erste Akkorde, testet, variiert, verwirft. Manchmal dauert dieser Prozess Monate, manchmal Jahre.

In der IFF-Inhaltsstoffpalette stehen Flipo für die Auswahl der Rohstoffe über 1.200 Moleküle zur Verfügung – natürliche wie synthetische, jede mit spezifischen hedonischen, emotionalen oder technischen Eigenschaften. Wie ein Maler mit einer Farbpalette entscheidet Flipo, welche Ingredienzien sie kombiniert. Fine Fragrance arbeitet ausschließlich in Alkoholbasis – ein Standard seit dem späten 19. Jahrhundert, als die synthetische Chemie die Parfümerie revolutionierte und Marken wie Chanel, Guerlain oder Patou mit neuartigen Molekülen ihre Signaturen schufen.

„Wenn man an einem Projekt arbeitet, muss man sich von Anfang an darüber im Klaren sein, dass es eine Menge Konkurrenten gibt“, sagt Flipo. „Es ist ein sehr langer Weg, seine Idee in den Flakon zu bringen.“ „Libre“ von YSL – heute Marktführer – benötigte acht Jahre und 1.500 Modifikationen, bis die finale Parfümstruktur stand. Für „La vie est belle“ waren es sogar rund 6.000 sogenannte „Mods“, bevor es 2012 auf den Markt kam. Im Jahr 2019 war es eines der meistverkauften Parfüms der Welt. Starallüren sind Flipo aber fremd: Ihre Zeit verbringt sie gerne in der Bretagne, am Meer. „Dort tanke ich auf. Kreativität ist ein Muskel – und der braucht Erholung“, sagt sie.

Erst wenn das finale Parfüm von der Marke akzeptiert wird, beginnt die industrielle Produktion: Das Duftöl, das aus zahlreichen ­Rohstoffen besteht, wird von IFF an Lizenznehmer wie L’Oréal verkauft – diese füllen es dann in ihre Flakons. Der Preis richtet sich nach der Komplexität der eingesetzten Inhaltsstoffe. „Am Ende muss es gut riechen – das ist die Basis“, sagt Flipo. Doch ihr Ansatz ist strategisch. Kreativität sei nur ein Teil der Gleichung: „Es geht auch darum, zu liefern – wiedererkennbar und skalierbar zu sein.“

Flipos Erfolg ist mit einem Team verbunden, das sie dabei unterstützt, eine kreative Vision in Realität übersetzt. In der Fine-Fragrance-Abteilung arbeitet sie eng mit einem Kernteam aus Scent-Design-Managern und Markenverantwortlichen, im Austausch für etwa L’Oréal oder Puig, zusammen. Unterstützt wird Flipo zudem von ­einer Parfümerie-Assistentin: Sie mischt täglich Dutzende Muster und kennt jede Nuance der Rezeptur. Darüber hinaus arbeiten Chemiker, Agronomen und Rohstoffexperten an der Optimierung natürlicher Inhaltsstoffe – von Patschuli bis Zitrus – oder entwickeln neue nachhaltige Extrak­tionsmethoden. Technische Experten analysieren wiederum, wie eine Duftarchitektur wirkt, wie lange sie hält, ob sie hitzestabil ist – bis hin zur ­finalen Produktion. Diese integrierte Wert­schöpfungskette erlaubt es Flipo, sich auf ihre olfaktorische Stärke zu konzentrieren und dabei auf ein vielschichtiges Expertenteam zu vertrauen. „Ich bin nie allein. Mein Erfolg ist Teamarbeit“, sagt sie.

Neben Meister-Parfümerin und Botschafterin von IFF ist Flipo auch Mentorin junger Parfümeure, darunter aufstrebende Namen wie Caroline Dumur oder Paul Guerlain, die sie aktiv coacht. „Mentoring ist für mich eine sehr wichtige Aufgabe. Ich sehe mich als Teil eines Systems und die Zukunft der Branche beginnt mit der Ausbildung und dem Wissenstransfer“, so Flipo.

Aktuell nutzt sie neueste wissenschaft­liche Erkenntnisse und künstliche Intelligenz, um Emotionen in Duftformeln zu übersetzen. „Ich arbeite derzeit an Produkten, die 2028 oder 2030 auf den Markt kommen“, sagt sie. Als Architektin der Parfümerie von morgen entwickelte Anne Flipo für die „Fragrance Collection of Emotions“ von Charlotte Tilbury jüngst eine Duftserie mit, bei der neuronale Daten, KI-gestützte Anwendungen und emotionale Zielbilder verschmelzen. Die zugrunde liegende Plattform ­„Science of Wellness“ basiert auf mehr als 40 Jahren Forschung zur emotionalen und kognitiven Wirkung von Düften. Mithilfe des firmeneigenen IFF Scent Cube lassen sich daraus kognitive Wirkungen wie Ruhe, Energie oder Selbstvertrauen ableiten. Flipo übersetzte diese Zielbilder in Düfte wie „Joyphoria“ oder „Love Frequency“. So soll eine neue Generation von Fine Fragrances, die Intuition mit datenbasierter Forschung verbinden, entstehen.

Unterschiedliche ­Entwicklungszeiträume, komplexe Prozesse, Profitabilitätszwang beim Output – die berühmten Kreationen sind längst Teil eines globalen Wachstumsmodells. Jeder Bestseller kann Millionenumsätze pro Jahr generieren. Über 150 Parfüms hat Flipo kreiert und damit viele internationale ­Auszeichnungen gewonnen, etwa den Lifetime Achievement Award der Fragrance Foundation (2023) und den Prix d’Honneur François Coty (2022). Trotz ­allem bleibt sie geerdet. Flipo bevorzugt das stille Schaffen – ihre Düfte aber kennt die ganze Welt.

Seit über 30 Jahren ist Anne Flipo als Parfümerin tätig. In diesem Zeitraum hat die Trägerin des Titels „Master Perfumer“ über 150 Düfte kreiert – für Marken wie Frederic Malle, Jo Malone und Lancôme. Inspiration sammelt Flipo nach wie vor dort, wo ihre Liebe zu Gerüchen entstanden ist: in der Natur.

Text: Theresa Mader
Fotos: Grégoire Mähler, Julien Mignot

Forbes Editors

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