PIVOT OR DIE

Manchmal müssen sich Unternehmen von der Wurzel auf neu erfinden, um überleben zu können. Und oft öffnet ein sogenannter Pivot dann die Türen zum Erfolg.

Das Geschäftsleben kennt keine ­Gnade – was nicht ankommt, ist zum Sterben verurteilt. Das trifft ­jedes Jahr Zigtausende Firmen rund um den Globus. Doch bei manchen scheinbar Todgeweihten zündet quasi in letzter Sekunde der göttliche Funke, der das Feuer des Erfolges auflodern lässt, was manchmal nicht nur eine Namensänderung, sondern auch eine radikale Neugestaltung des Geschäftsmodells mit sich bringt – einen „Pivot“ also, wie es Experten nennen.

Haben Sie ­beispielsweise schon einmal von einem Unternehmen namens „Burbn“ gehört? Eine Umfrage im Bekanntenkreis ­brachte nur Erstaunen mit sich – und das ist kein Wunder. Was nach ­einer Verballhornung des US-amerikanischen Whiskeys klingt, war der Name ­eines Unternehmens, das sich eine App ausgedacht hatte. Ihr Erfinder, ­Kevin Systrom, wollte ­einen Konkurrenten zum beliebten Dienst Foursquare etablieren. Wie auch beim Vorbild konnte man bei Burbn in Locations „einchecken“ und ­erhielt dann Punkte für soziale Interaktionen – und man bekam die Möglichkeit, Fotos zu posten. Doch leider zeigte sich recht rasch, dass die Idee nicht wirklich der große Renner war.

Der Erfolg von Burbn blieb aus, weil die App einfach zu kompliziert und keinesfalls ­anwenderfreundlich war. Eine firmeninterne Expertengruppe ­wurde installiert, um der ­Sache auf den Grund zu gehen – und kam bald zu einem ­überraschenden Ergebnis: Von allen Funktionen wurde eine einzige deutlich öfter genutzt als alle anderen. Denn die User fanden zwar den Location-Check-in gut, aber noch mehr Gefallen fanden sie am – Sie haben es vielleicht schon erraten – Teilen von Bildern.

Die Reaktion der Firmen­leitung auf diese Erkenntnis blieb nicht lange aus. Es folgte eine Marktanalyse und ein Pivot: Die Programmierer fügten ­Bildeffekte und Filter hinzu und warfen andere Features komplett über Bord. Man zimmerte so eine Foto-App, die zwischen Hipstamatic und Facebook positioniert werden sollte. Und weil man alles umkrempelte, ­machte man auch beim Namen nicht halt: Ab sofort hieß die App „Instagram“.

Das war Ende 2010 und klingt wohl schon vertrauter. Was ­folgte, war ein steiler Aufstieg – und der war so heftig, dass Mark Zuckerberg auf das kleine ­Unternehmen mit zwölf Mitarbeitern und ­völlig ohne Ertragsmodell ­aufmerksam wurde. Im April 2012 kaufte der Facebook-Gründer Instagram – damals mit bereits 30 Millionen Nutzern – für eine Milliarde US-$. Rund ein Jahr danach hatte die App bereits 200 Millionen User rund um den Globus, wenige ­Jahre später wurde die 500-Millionen-­Schwelle aktiver Nutzer überschritten.

Mit etwas ähnlich Klingendem haben sie sich vielleicht schon mal die Milch versüßt – aber was genau ist ein Odeo? Nun, den alten Unternehmensnamen müssen Sie sich nicht merken; den neuen werden Sie sicher kennen – aber schön der ­Reihe nach: Odeo war einst eine Plattform für Podcasts. Das hörte sich anno 2005 nach einer ­verheißungsvollen Idee an. Aber dann ließ Apple ­iTunes vom Stapel, und auf einen Schlag konnten Hunderte Millionen iPod-Besitzer Podcasts ohne große Komplikationen abrufen. Für Odeo sah die Zukunft plötzlich sehr ­düster aus.

Doch CEO Evan Williams hatte das Herz am rechten Fleck, und seine Ganglien waren bestens durchblutet – ohne neue Idee ­wären 14 Angestellte auf der Straße gestanden. Nach einem Hackathon konnte sich ein Prototyp behaupten, den man Anfang 2006 als Basis für einen Neustart nahm. Der neue Name klang dann schon ­vertrauter: „Twttr“ hieß man jetzt, und bald wurde daraus Twitter. Es folgte ein typischer Start-up-Siegeszug, denn der Kurznachrichtendienst ­erlebte einen kometenhaften Aufstieg. Heute wird die Company mit dem Vogel-­Icon nicht nur von US-Präsident Donald Trump rege genutzt, der Twitter regelmäßig in die Nachrichten bringt, sondern auch von weltweit gut 1,5 Milliarden Nutzern, die dem Unternehmen pro Jahr saftige zwei Milliarden US-$ an Werbe­einnahmen verschaffen.

Einträgliches Gezwitscher: Die Aktie von Twitter legte in den letzten drei Jahren um 98 % zu.

Das Unternehmen gefällt auch den Börsenprofis, und so liegen aktuell eine Kaufempfehlung und drei „Hold“-Vota am Tisch. Kein Analyst rät zum Verkauf der Aktie, der man zurzeit bei einem Kurs von 34 US-$ noch einen Anstieg von rund 12 % zutraut. Die Aktie stand im ­April 2017 noch bei lediglich 14 US-$, schnellte im Juni 2018 dann aber auf 47,79 US-$ nach oben. Es folgte eine Flaute; seit Mitte Jänner deutet sich jedoch eine Trendwende an, die deutlich nach oben führen kann, meinen die Experten von RuMaS Express-Service.

Skeptisch ist die Schweizer Großbank UBS: Sie hat Twitter von „Buy“ auf „Neutral“ abgestuft und das Kursziel von 37 auf 35 US-$ gesenkt. Weitere Investitionen dürften die Bewertung der Aktie in diesem Jahr wahrscheinlich deckeln, schrieb Analyst Eric Sheridan in ­einer Studie; bei Anlegern stünden einige Debatten etwa um den Nutzerstamm im Mittelpunkt, die der Kurznachrichtendienst laut Ex­pertenmeinung erst aus der Welt schaffen muss.

Ein Produkt, das ­ungeahnten Erfolg brachte, aber im ­Grunde nur eine Notlösung war, ist Slack. Eigentlich hatte CEO Stewart Butter­field ein MMO im Sinn, also ein Massive Multiplayer Online Game, das aber nie veröffentlicht wurde, weil es einfach keinen Erfolg versprach. Guter Rat war nicht teuer und schnell zur Hand: Die Macher konzentrierten sich 2013 auf Slack, einen webbasierten Instant-Messaging-Dienst. Mit ihm können Nachrichten ausgetauscht werden, das Chatten mit Einzel­personen oder in einer Gruppe wird ermöglicht. Slack ist in ­einer Version mit ­begrenzten ­Funktionen kostenlos nutzbar, darüber ­hinaus über ein ­monatliches Entgelt ab acht US-$ je Benutzer. Laut ­Unternehmensangaben nutzten 2014 täglich 750.000 Arbeitsgruppen Slack; wenige Jahre später waren es bereits 2,3 Millionen Nutzer, wovon 675.000 zahlende Kunden waren. Die Idee des 2009 in Vancouver, Kanada, ­gegründeten ­Unternehmens bekam also rasch massiven Zuspruch von den Nutzern – und das, obwohl man anfangs absolut kein Marketing betrieb, sondern der Erfolg ausschließlich auf „Word of Mouth“ basierte.

Das rief auch Microsoft auf den Plan, das für Slack 2016 ein Gebot in der stattlichen Höhe von acht Milliarden US-$ abgab, das Geld letztendlich aber doch nicht lockermachte. Im Vorjahr lief es jedenfalls rund für das Unternehmen: Es konnte seinen Umsatz im ­dritten Quartal des Geschäftsjahrs um 60 % auf 168,7 Millionen US-$ er­höhen – weit mehr, als die Analysten prognostiziert hatten. Die Zahl der täglichen ­Nutzer stieg um rund 20 % auf mehr als zwölf Millionen. Allerdings musste der Software­anbieter erneut einen höheren operativen Verlust ausweisen. Für das vierte Quartal 2019 – Zahlen lagen bei ­Redaktionsschluss noch nicht vor – rechnet Slack mit einem Umsatz von rund 190 Millionen US-$ oder ­einem Wachstum von 41 bis 43 %. Das operative Ergebnis (Non-GAAP) soll bei minus 34 bis minus 36 Millionen US-$ liegen.

Die Aktie des Unternehmens, das seit Juni 2019 börsennotiert ist, liegt nach einer heftigen Berg-und-Tal-Fahrt aktuell mit 23 US-$ rund 47 % unter ihrem Höchststand. Der Boden schien allerdings im November mit 20 US-$ erreicht, meint Analyst Andres Cardenal: „Jetzt sieht es so aus, als ob die Aktie anfangen möchte, höher zu steigen. Auch der Relative Strength Index (RSI) verzeichnet eine Reihe höherer Tiefststände, was darauf hinweist, dass sich die Dynamik verbessert.“

Text: Reinhard Krémer
Illustration: Valentin Berger

Der Artikel ist in unserer Jänner-Ausgabe 2020 „Radical Change“ erschienen.

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