Pluvi.On: Ein brasilianisches Start-up Märchen

Unwetter und Überschwemmungen setzen der Bevölkerung Brasiliens seit jeher zu und fordern Jahr für Jahr zahlreiche Menschenleben. Das Startup Pluvi.on aus São Paulo lässt Gefährdete nicht im Regen stehen.

Diogo Tolezano nimmt den Hörer ab. Er entschuldigt sich, in Brasilien sei man immer ein bisschen später dran, das gebiete die Höflichkeit, schmunzelt er. Überhaupt habe er gerade viel um die Ohren, die Überschwemmungen der letzten Wochen hätten ihm ganz schön zu schaffen gemacht, wirft er nach einer kurzen Pause ein. Doch Diogo ist, entgegen erster Vermutungen, kein Bauer, sondern Gründer eines Start-ups namens Pluvi.On. In zügigen Worten berichtet er von seinem Traum, Startschwierigkeiten, Machine Learning und dem Heiligen Peter. Er spricht über seine Passion, Menschen und Unternehmen durch Unwettervorhersagen zu unterstützen.

Smart City São Paulo

São Paulo: Metropole des Südens, größte Stadt Brasiliens, zweitgrößter Ballungsraum südlich des Äquators, Zweiflüssestadt. Genauso vielseitig wie diese Attribute, sind auch ihre Herausforderungen: Seit 1970 hat sich die Bevölkerung sprunghaft von fünf auf zwölf Millionen mehr als verdoppelt. Die Stadt breitete sich in den letzten Jahrzehnten unkontrolliert aus, Stadtplanung und Infrastrukturausbau hinken hinterher. Die Folgen sind großflächige Favelas, die Elendsviertel am Stadtrand, wo die ärmste Bevölkerungsschicht zusammengedrängt auf engstem Raum lebt. Hier traten während der niederschlagsreichen Monate des brasilianischen ‘Primavera’, im Jänner und Februar, auch dieses Jahr wieder die beiden Stadtflüsse Rio Tietê und Rio Pinheiros über ihre Ufer und rissen große Mengen an Schlamm mit sich. In der Region wurden 70 Tote verzeichnet, aufgrund der hohen Bebauungsdichte des Deltagebietes ist ein Abtransport der Schlammmassen schwer, weshalb 30.000 bis 40.000 Menschen ihr Zuhause verloren. Neben anderen Faktoren sind das Ausmaß und die wiederholt versäumte Vorbereitung auf diese Katastrophen vor allem ungenauen Wettervorhersagen geschuldet.

Weather Forecasting in Brasilien

Südamerika gilt im Vergleich zu Nordamerika und Europa als besonders komplex bei der treffsicheren Modellierung und Prognose des Wetters. Dies liegt am Zusammenspiel zweier Extreme: Den hohen und kalten Anden im Westen und dem warmen, feuchten Amazonasgebiet im Norden. Die Daten dazu werden in Brasilien vorrangig von zwei Seiten bereitgestellt: Einerseits vom privaten Anbieter Climatiempo, der eine Art Monopolstellung für Wettervorhersagen im brasilianischen Fernsehen und Rundfunk hat; Andererseits von der öffentlichen Stelle CPTEC (Zentrum für Wettervorhersage und Klimastudien), die mit ihrem Projekt „Brazilian Global Atmospheric Model“ einen besonderen Fokus auf die Präzisierung der Vorhersagemodelle durch Miteinbeziehung der Auswirkungen des El Niño legt. Die Vorhersagegenauigkeit dieser Anbieter liegt rund zwanzig Prozent unter der Treffsicherheit des internationalen Spitzenreiters NOAA (North Oceanic Atmospheric Administratio) und bietet somit noch reichlich Spielraum für Verbesserung. Dies liegt nicht nur an den schwierigen geographischen Umständen in Brasilien, sondern auch am Mangel qualitativ hochwertiger und hyperlokaler Wetterdaten.

Die Lösung von Pluvi.On

In diesem homogenen Umfeld bewegt sich seit 2016 das Social Impact-Start-up mit dem simplen, jedoch auch hoffnungsvollen Namen Pluvi.On, ‘Regne (ruhig) weiter’. Das Gründerteam rund um Wirtschaftsingenieur Diogo Tolezano hat sich der Verbesserung der brasilianischen (und in Zukunft auch weltweiten) Wetterdaten verschrieben. Dies, so der Gründer, mit dem Ziel, „Leben zu retten und mit Überflutungen, Erdrutschen sowie schweren Regenfällen verbundene finanzielle Schäden zu reduzieren.“

Dieser ambitionierten Vision unterliegt rationale, technische Logik. Die kleine Pluvi-Wetterstation wird bei interessierten Betrieben installiert. Die durch die Stationen gesammelten Wetterdaten werden mit Informationen anderer Anbieter kombiniert und mithilfe eines statistischen Modells werden punktgenaue und hyperlokale Vorhersagen in unterschiedlichen Zeiträumen getroffen. Das Modell wird durch immer mehr Wetterstationen und eine immer größer werdende Datenmenge stetig verbessert. Bis heute konnte das nun bereits zehn-köpfige Team über 300 Wetterstationen in zehn Bundesstaaten Brasiliens installieren. Der Fokus hierbei liegt insbesondere auf dem Ballungsraum von São Paulo. Diogo jedoch strebt danach, “eine Wetterstation in allen Ecken jeder brasilianischen Stadt zu installieren”. Bei der empfohlenen Abdeckung von einer Station pro fünf Quadratkilometer müssten zur Deckung dieses ambitionierten Ziels ganze 1.691.302 Stationen aufgestellt werden. Während dies derzeit noch nach Zukunftsmusik klingt, können auf anderen Ebenen bereits Erfolge gefeiert werden: Pluvi.Ons Drei-Tages-Prognosen erreichen eine Eintrittswahrscheinlichkeit von rund achtzig Prozent, dies liegt zehn Prozent über dem landesüblichen Schnitt.

Die Mission und Story von Pluvi.On

Von mittelständischen Betrieben bis hin zu großen Konglomeraten sind zahlreiche brasilianische Unternehmen bereits auf Pluvi.Ons treffsichere Lösung aufmerksam geworden. Bis dato stammen vierzig Prozent der Kunden aus der Logistikbranche, dreißig Prozent arbeiten im landwirtschaftlichen Sektor, die restlichen dreißig Prozent verteilen sich auf andere Wirtschaftszweige. Diesen Klienten bietet das junge Team eine rundum funktionale Lizenzlösung, in der die Pluvi-Station, die dazugehörige Software und das Nutzer-Dashboard enthalten sind. Zusätzlich wird Pluvi.On auch durch einen großen brasilianischen Telekommunikationsbetreiber unterstützt. Dieser stellt Infrastruktur bereit, produziert die Pluvi-Stationen, die durch hohe Importpreise der Materialien sehr kostenintensiv sind, und vermittelt Kontakte zu ihrem bestehenden, breiten Kundensegment. Zusätzliches Funding in Höhe von umgerechnet rund 400.000 Euro kommt aus einem Topf des brasilianischen Ministeriums für Wissenschaft, Technologie und Innovation.

Doch das Start-up-Team, das aktuell aus einem bunten Mix an Meteorologen, Designern, Ingenieuren und Data Scientists besteht, verfolgt eine ganz andere Herzensangelegenheit: Pluvi.On wurde nach dem Vorbild des japanischen Citizen-Science-Netzwerks Safecast gegründet, das an Autospiegeln zu befestigende Messgeräte herstellte, um das Ausmaß der Strahlenbelastung nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima nachweisen zu können. Pluvi.On folgt diesem Gedanken, indem es vor allem der armen Bevölkerung ‘ihrer’ Stadt eine leicht verständliche und kostenlose sowie allzeit zugängliche Wetterwarnlösung zur Verfügung stellt, den sogenannten ‘St. Peter-Bot’.

Der ChatBot „St. Peter“

Der heilige Simon Petrus, im Portugiesischen San Pedro, gilt im Christentum als Himmelspförtner und Wächter über das Wetter. Dieser soll künftig der zu großen Teilen römisch-katholischen Bevölkerung der Stadt Pluvi.Ons Wetter-Chatbot näherbringen. Er kann via Facebook und dem in Brasilien stark genutzten Nachrichtendienst Telegram als Freund hinzugefügt werden und sendet in Folge Wetterwarnungen aus. Diese Warnungen sind durch die selbst erfassten Daten des Jungunternehmens verständlich aufbereitet. So nimmt San Pedro von der Kommunikation einfacher Informationen wie der Regenwahrscheinlichkeit und -menge Abstand und verpackt diese liebevoll in freundschaftliche Empfehlungen. Die Online-Version des Heiligen kann auf diesem Wege raten, einen Regenschirm einzupacken oder in ernsteren Fällen auch, Möbel vor Überflutung in Sicherheit zu bringen. Dadurch kombiniert die Lösung Einfachheit und Praxisnähe - viele Einwohner haben Handys mit wenig Speicherplatz und können daher keine zusätzlichen Apps installieren - mit der Mission, Leben wie auch Hab und Gut zu retten.

Durch ihre außergewöhnliche Mission hat das junge Start-up bereits internationale Aufmerksamkeit erlangt: Die Inkubator-Programme Facebooks Estacao Hack Sao Paulo, Google for Startups sowie Red Bull Basement gehören zu den ersten Förderern und bringen nicht nur Vernetzung und Bekanntheit, sondern auch technische Unterstützung wie die Nutzung von Cloud Storage und Computing mit sich. Pluvi.On war außerdem das erste Start-up, das Teil der United 4 Smart Sustainable Cities Initiative (U4SSC) der Vereinten Nationen wurde. Zur Aufnahme in diese Initiative reiste ein Teil des Teams nach Wien, was ihre Verbundenheit mit dem deutschsprachigen Raum stärkte. Schon jetzt wird über den brasilianischen Raum hinausgedacht.

Die Zukunft von Weather Forecasting

Neben dem anstehenden Launch des St.Peter-Bots hat Pluvi.On vor allem die Verbreitung seiner Wetterstationen im ganzen Land im Auge. Das langfristige Ziel ist es, das gesamte urbane Territorium mit Messstationen  auszustatten, wozu 10.000 bis 15.000 „Pluvis“ benötigt werden. Im ersten Quartal 2020 sind mit 300 angebrachten Stationen ungefähr 3% dieser Mission erfüllt, bis Ende des Jahres sollen es bereits 10% sein. So strebt Pluvi.On an, den brasilianischen Markt in fünf bis sechs Jahren vollends abzudecken. Schon jetzt wird parallel dazu eine Expansion in andere lateinamerikanische Staaten sowie Afrika und Südostasien vorbereitet, in denen die Vorhersagequalität ebenfalls noch Luft nach oben aufweist – gemäß dem Motto: Pluvi.on, regne (ruhig) weiter.

Autoren: Jürgen Dieber, Carina Heinzel und Michael Mayr
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Fotos: beigestellt

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