Mit dem FORBES-NEWSLETTER bekommen Sie regelmässig die spannendsten Artikel sowie Eventankündigungen direkt in Ihr E-mail-Postfach geliefert.
Aloisia Schipflinger, die alle nur „Rosi“ nennen, hat in einem halben Jahrhundert aus einem Gasthaus am Berg und ohne Straßenanbindung eine Legende in Kitzbühel gemacht. Heute steht die „Sonnbergstuben“ vor der Frage: Wie wird es weitergehen, wenn die Frau, die bisher immer da war, eines Tages weg ist?

Als wir ankommen, ist es ungewohnt still auf der Bichlalm, die als sonnigste Alm Kitzbühels gilt. Es ist Anfang April, und während die Skipisten langsam, aber sicher schließen, herrscht auf der „Sonnbergstuben“ ein Zustand mit Seltenheitswert: Betriebsurlaub. Einmal im Frühjahr und einmal im November macht das Restaurant für drei Wochen zu – sonst ist hier immer Betrieb.
Kein Lachen, kein Geklapper von Tellern, keine Rosi, die ein Lied anstimmt – stattdessen warten Werkzeug und Bauarbeiter auf grünes Licht, um die Terrasse umzubauen. Aktuell fehlt die Baubewilligung, die eigentlich für heute zugesagt war; ein Zustand, mit dem Rosi Schipflinger nicht gut umgehen kann, denn Stillstand ist wahrlich nicht ihre Komfortzone. Und trotzdem (oder gerade deswegen) wirkt dieser Moment wie ein Symbol für das, worum es im Größeren geht: nachhaltige Veränderung. Denn nach 57 Jahren, 17 Umbauten, unzähligen Gästen und Schnitzeln stellt sich für die „Sonnbergstuben“ eine große Frage: Wie lange noch macht Rosi weiter? Und was bleibt, wenn sie es nicht mehr tut?

Die 82-jährige Aloisia Schipflinger ist mehr als nur eine Wirtin – sie ist eine Institution. Seit 1968 führt sie die „Sonnbergstuben“ in Kitzbühel, heute einer der bekanntesten Gastronomiebetriebe des Landes. Prominente aus Politik, Wirtschaft und Unterhaltung aus Österreich, Deutschland, Europa und der Welt pilgern zu ihr; nicht nur wegen der Kaspressknödel und einem legendären Weinkeller, sondern auch und vor allem wegen Rosi. Die Wirtin, die neben ihren Gästen auch die Musik liebt, arbeitet gemeinsam mit einem Team von 36 fixen Mitarbeitern, angeführt von ihrem Sohn Friedl, täglich für das Wohl ihrer Besucher. 1.000 Speisen pro Tag werden in der Hochsaison serviert, das macht rund 200.000 pro Jahr. Hinzu kommen zehn Gästezimmer und einige Wohnungen, die die „Sonnbergstuben“ vermietet. Schipflinger selbst gibt dabei überhaupt keine Ruhe: Von Mittwoch bis Sonntag hat die „Sonnbergstuben“ geöffnet, und wie sieht es bei ihr aus? „Ich bin meistens die Letzte, die noch da ist!“ In einer Branche, die von Personalnot, Digitalisierung und Margendruck geplagt ist, hält Rosi unbeirrt an dem fest, was für sie zählt: Handschlagqualität, Familie – und Musik.
Dass es in der „Sonnbergstuben“ überhaupt etwas zu übernehmen gibt, liegt an vielen Jahren harter Arbeit. Es gab eine Zeit, da stand Schipflinger allein in der Küche, servierte selbst, wusch ab, sang, wenn ihr danach war. Zehn Jahre lang hatte sie keinen einzigen Mitarbeiter, einzig ihr damaliger Ehemann half ab und zu aus. Was als kleines Gasthaus auf einem schwierig zu bebauenden Stück Land begann, wurde über Jahrzehnte hinweg zu einem Ort, den Gäste nun bereits in dritter Generation besuchen. Dabei war nie ein Businessplan im Spiel, keine Expansionsstrategie, keine Berater.
Als Schipflinger 1968 die ersten Gäste empfing, war von Jetset, Champagner und DJ-Lineups nämlich noch keine Rede. Damals stand auf dem Kitzbüheler Sonnberg nicht viel mehr als ein altes Bauernhaus; ohne Komfort, aber mit guter Aussicht. Ihr Bruder erbte den elterlichen Bauernhof, Rosi Schipflinger war die „Weichende“, also das Kind, das ausbezahlt wurde und sich seinen Lebenszweck selbst suchen musste. Geld war aber keines da, also erhielt Schipflinger ein Grundstück – hoch auf einem Berg, auf dem es nichts gab. Nicht mal eine Straße führte nach oben. Doch ihr Vater sagte damals zu ihr: „Du baust da oben. Das ist ein besonderer Platz.“ Es war kein Vorschlag, sondern eine Anweisung.
Die Kindheit war bescheiden – keine Armut, wie sie selbst sagt, aber einfach. Einmal pro Woche gab es Fleisch, ihre Mutter backte das Brot selbst, morgens ging es mit Schneeschuhen durch den Tiefschnee zur Schule – manchmal begleitet vom Vater, der mit dem Holzpflug voranfuhr. Die Arbeit im Stall gehörte ebenso zum Alltag wie das gemeinsame Musizieren: Zither, später Gitarre – gekauft vom ersten Lehrlingsgeld. Musik wurde zum Rückzugsort, zu einem Ventil, zu einem Lebenselixier. „Wenn’s mir nicht gut geht, dann verstecke ich mich in meinem Kammerl und lerne ein neues Lied“, sagt Rosi Schipflinger heute.

Dass sie Wirtin werden wollte, war ihr früh klar. Eigentlich wollte sie ins Tal, runter vom Berg, wo sie anfangs keine Baubewilligung bekam. Doch der Vater blieb stur. Also kämpfte Rosi Schipflinger ein Jahr lang für die Bewilligung. Sie bekam sie, baute die „Sonnbergstuben“ und eröffnete 1968 eine Frühstückspension.
Das lief mehr schlecht als recht, zehn Jahre lang hielt sie sich über Wasser. „Ich habe mit zehn Betten angefangen, und dann waren es mal 40 Betten, aber alles nur ganz kleine Zimmer. Da war noch kein Klo und keine Dusche, nichts drin“, erzählt sie. Als sie anfing, ganztags Küche anzubieten, fing das Geschäft aber an, zu laufen.
Sie stellte ihre erste Mitarbeiterin ein – die damalige Nachbarin – und erweiterte. Aber immer nur Schritt für Schritt, wie sie sagt: „Ich habe wirklich immer nur einen kleinen Happen dazugebaut. Nur, was ich mir leisten konnte, nie einen großen Wurf.“ Bis heute sind es 17 Zubauten – nun ist sie aber fertig, wie sie sagt.

Heute sind viele Mitarbeiter seit Jahrzehnten an ihrer Seite. Zum Kernteam gehören etwa Restaurantmanager Jan oder auch Anja Autenrieth, die sich um PR & Marketing kümmert. Autenrieth ist seit zehn Jahren mit dem Mann liiert, der für das leibliche Wohl sorgt – Rosis Sohn Fridolin, genannt „Friedl“. Nach 20 Jahren in den Küchen der Welt – darunter als jüngster Küchenchef beim Feinkost-Imperium Käfer – kehrte er schließlich in die Sonnbergstubn zurück. Er brachte nicht nur Sushi und internationale Küche mit, sondern auch neue Strukturen. Der große Schub kam mit ihm: Neue Qualität, neue Ideen, ein moderner Weinkeller mit mehr Umsatz als jeder andere Betrieb in Österreich, wie Friedl nicht ohne Stolz behauptet.
Doch wirtschaftlicher Erfolg war nie zentral, sagt Rosi Schipflinger: „Erfolg war nie mein Ziel, ich wollt’ nur, dass die Leut’ gern wiederkommen.“ Und sie kommen wieder: 60 % der Gäste sind Stammgäste, manche reisen in dritter Generation an. Politiker, Unternehmer, Künstler; Arnold Schwarzenegger, Andreas Gabalier, Roman Polanski, Boris Becker.

„Erfolg war nie mein Ziel – ich wollt’ nur, dass die Leut’ gern wiederkommen.“
Rosi Schipflinger
Begleitet hat die Wirtin stets die Musik, die ihr gleichzeitig Kraft gab und eine Brücke zu den Gästen war. Das Gitarrespielen brachte sie sich selbst bei – „weil auf jeder Hütte eine Gitarre hängt, aber keine Zither“, wie sie lachend erzählt. Jack White, der bekannte Musikproduzent, widmete ihr sogar ein Lied: „Kitzbühel, mein Augenstern“. 1991 wurde das Lied erstmals aufgeführt, bis heute trägt es Schipflinger gerne vor. Ein Plattenvertrag stand in Aussicht, doch Schipflinger lehnte ab – denn eine Karriere als Sängerin hätte bedeutet, das Gasthaus und ihre Gäste zu verlassen: „Ich hätte das alles nicht im Stich lassen können.“
Stattdessen blieb sie ihrem Lebenswerk treu und steht bis heute bei besonderen Anlässen selbst auf der Bühne. Besonders die jungen Gäste bitten sie regelmäßig, ein bis zwei traditionelle Lieder zu singen – ein Moment, der für viele zu den Höhepunkten des Abends gehört.

Die „Sonnbergstuben“ ist längst mehr als ein Restaurant; sie ist Mythos, Bühne, Begegnungsort. Doch was passiert, wenn die 82-jährige Rosi irgendwann nicht mehr jeden Tag die Gäste begrüßt? Die Zukunft ist bis zu einem gewissen Grad unsicher. Die beiden Enkelkinder bewegen sich zumindest in die richtige Richtung: Rosi Schipflingers Enkelsohn steht vor seiner Gesellenprüfung als Zimmermann, die Enkeltochter absolviert bald die Matura in der Tourismusschule. Für beide käme eine Übernahme aber zu früh – außerdem ist noch keine Entscheidung gefallen, ob sie überhaupt Wirt oder Wirtin werden wollen. Rosi macht keinen Druck: „Vielleicht gehen sie erst hinaus in die Welt. Vielleicht kommen sie zurück. Man muss sie lassen.“ Und ein Verkauf, wie zuletzt in den Medien spekuliert wurde? „Verkaufen werde ich nie. Das ist mein Herzblut – und so etwas verkauft man nicht“, sagt Rosi. Eine Verpachtung käme als letzte Option infrage, doch an der Art, wie sie die Frage beantwortet, merkt man, das Schipflinger von der Idee nicht begeistert ist.
Unabhängig von der Eigentümerin steht der Betrieb aber auch grundsätzlich an einer Weggabelung. Einerseits zieht es eine neue Klientel in die „Sonnbergstuben“ – jung, urban, international –, die für große Events inklusive DJs und lange Partys kommt. Elektronische Musik, viel Bass, hohe Konsumation und gute Auslastung – wirtschaftlich ist das sehr lohnend. Der Spagat zwischen Partykultur und gewachsener Bodenständigkeit ist aber nicht einfach. „Ein-, zweimal im Jahr ist das schon okay. Aber man darf es nicht übertreiben“, sagt Rosi. Einige im Haus sehen das pragmatischer, wollen mehr machen, da solche Events für den Umsatz natürlich ein Segen sind. Schipflinger: „Da diskutieren wir schon. Aber wir entscheiden gemeinsam.“

Rund 7,5 Mio. € erwirtschaftet die „Sonnbergstuben“ ungefähr im Jahr. Eine große Expansion stand nie zur Debatte. Ein zweiter Standort? War nie Thema. Ein Hotel mit 40 Betten, Spa und Schwimmbad? Uninteressant. „Wir haben zehn Zimmer, eine Sauna, ein Heubad – das reicht“, sagt Rosi. Und selbst die große Hotelleriekrise (Stichwort Covid-19) wurde nicht mit Strategie, sondern mit Instinkt gemeistert: Volle Lager, abgesagte Veranstaltungen, leere Terrassen – doch Rosi hielt das Team zusammen. Niemand wurde gekündigt, alle kamen zurück. „Weil wir zusammengehören“, sagt sie.
An Ruhestand denkt Schipflinger nicht, die Frage nach den Diskussionen um eine Erhöhung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters quittiert sie mit einem irritierten Blick. Sie mag keine Urlaube, Ruhetage sind auch nicht ihres. Am wohlsten fühlt sich Schipflinger so, wie sie alle kennen: bei vollem Haus, guter Laune und mit einem Lied auf den Lippen.
In gewisser Weise hat man das Gefühl, dass Rosi Schipflinger an diesem Tag und an ihrem Lieblingsplatz sitzend nur wartet, dass es wieder losgeht. Sorgen um die Zukunft sollen sich andere machen – denn freiwillig abtreten wird sie eher nicht. Und wer sie so trifft, kann sich gut vorstellen, dass sie noch einige Zeit in der „Sonnbergstuben“ bleibt: „Solange ich noch singen und die Gäste begrüßen kann – solange bleibe ich da!“
Seit 1968 führt Aloisia Schipflinger, besser bekannt als „Rosi“, die „Sonnbergstuben“ in Kitzbühel. Aus einem einfachen Gasthaus machte sie seither ein Kultlokal, das regelmäßig von Politik, Wirtschaft und weiterer Prominenz aller Sparten besucht wird.
Fotos: Charlotte de la Fuente