Tante Emma schreibt E-Mails

Ben Chestnut und Dan Kurzius haben ein Milliardenvermögen aufgebaut. Und zwar, indem sie kleine Unternehmen auf altmodische Art und Weise unterstützen: mit E-Mail-Verteilern.

Vor zwei Jahren fand Ben ­Chestnut im Kofferraum seines Mercedes ein zerknittertes Stück Papier. Das ­Papier, das dort ein Jahr lang unbemerkt gelegen hatte, enthielt die ­interessante Information, welchen Wert eine führende Private Equity-Firma in New York seinem Unternehmen beimaß: zwei Mrd. US-$. Der CEO von Mailchimp ­verstaute den Zettel in seinem persönlichen Safe, zusammen mit den Visitenkarten einiger der größten Financiers der USA – für seine Frau, um im Falle seines Todes das Unternehmen zu verkaufen. „Das ist meine Art der Altersvorsorge“, witzelt Chestnut.

Chestnut hat guten Grund, sich nicht zurückzulehnen. Denn er und sein Co-Gründer Dan Kur­zius ­haben beide reichlich von ihrer Geduld profitiert. Mit einem Umsatz von 600 Mio. US-$ schreibt Mailchimp Gewinne und hat seinen Unternehmenswert in den letzten zwei Jahren auf geschätzte 4,2 Mrd. US-$ mehr als verdoppelt. Das hat Chestnut, 44, und Kurzius, 46, den ­beiden alleinigen Eigentümern, ­Beteiligungen im Wert von jeweils 2,1 Mrd. US-$ beschert. Der Erfolg von Mailchimp beruht auf dem amerikanischen Kleinunternehmer. Sein beliebtester Service – E-Mail-Marketing – mag 2018 als Lowtech und nicht besonders sexy erscheinen. Aber Kleinunternehmer können sich in der Regel keine Marketingteams oder Social-Media-Profis leisten. Für die 20 Millionen aktuellen Mailchimp-Nutzer kann die Möglichkeit, ein einfaches gebrandetes E-Mail mit wenigen Klicks zu versenden, den Unterschied zwischen Konkurs und Unternehmenserfolg ausmachen.

Chestnut und Kurzius ­haben sich dafür eingesetzt, dass ­dieser Dienst erschwinglich bleibt: Die Kunden von Mailchimp zahlen nichts für die ersten 2.000 Abonnenten oder 12.000 gesendeten E-Mails, danach zehn US-$ pro ­Monat. Die niedrigen Kosten führen ­potenziell zu einem großen Vorteil. Scott Marquart, Eigentümer von Stringjoy, einem in Nashville ansässigen Hersteller von kundenspezifischen Gitarrensaiten, sagt, dass jeder Dollar, den er für das Versenden eines wöchentlichen E-Mails über die Mailchimp-Software ausgibt, 20 US-$ an neuen Umsätzen bringt. „Die Kunden haben das Gefühl, dass sie mich kennen“, sagt er.

In Chestnuts Büro im Hauptsitz von Mailchimp, einem alten ­Lagerhaus im Nordosten von Atlanta, gibt es ein Foto von einem Boxhandschuh, begleitet von einem Mike-Tyson-Zitat: „Jeder hat einen Plan, bis er ins Gesicht geschlagen wird.“ Chestnut ist kein Boxer – obwohl er seine Frau in einem Karate­kurs kennengelernt hat. Aber es gibt ihm ein gutes Gefühl, weil seine Karriere damit begann, dass er einiges einstecken musste. So kam der Sohn eines US-Soldaten und einer Thailänderin 1994 an die Georgia Tech, um Industriedesign zu studieren. Doch dann erkannte er, dass er lernen wollte, wie man Webseiten baut – eine Fähigkeit, die die ­Schule Mitte der 1990er-Jahre nicht ­lehrte. Also brachte er es sich selbst bei, indem er in den Gängen eines benachbarten Buchladens Fachbücher las. Er bekam einen Job bei Cox Interactive Media. Dort angekommen, stellte Chestnut Kurzius ein, einen Teilzeit-DJ und ehemaligen Skateboarder, und ließ ihn am MP3-­Musikservice des Unternehmens arbeiten. Nach nur wenigen Monaten wurde die Abteilung während des Tech-Crashs geschlossen. Kurzius landete anderswo im Unternehmen, doch Chestnut wurde entlassen und verbrachte die nächsten Monate als freiberuflicher Webdesigner. Nach wie vor schmerzt ihn die Erinnerung an den Jobverlust.

Aber Kurzius und ­Chestnut bastelten weiter, zuerst an einer ­Seite für elektronische ­Grußkarten und dann an Mailchimp. Nicht nur Chestnut war im Frühjahr 2000 arbeitslos geworden: Kur­zius ­hatte miterlebt, wie die Bäckerei ­seines Vaters insolvent wurde; Chestnuts ältere Schwester verlor ­ihren Friseursalon. Was wäre, wenn eine simple Website es kleinen Geschäftsinhabern ermöglichen könnte, ihren treuesten Kunden E-Mails zu senden? Das wird die ­Firma vielleicht nicht retten, aber es könnte in einem immer überfüllteren und wettbewerbsintensiveren Umfeld ­sicherlich nicht schaden – so die ­damaligen Gedanken von Chestnut und Kurzius.

Das für seine E-Mail- und Marketingkampagnen bekannte Unternehmen Mailchimp wurde 2001 von Ben Chestnut  und Dan Kurzius gegründet. Heute erzielt Mailchimp Umsätze in der Höhe von 525 Mio. US-$, hat rund 800 Mitarbeiter und zählt rund 14 Millionen Kunden.

Mailchimp startete 2001 und blieb mehrere Jahre lang ein „Side Project“, das den Gründern ­einige Tausend US-$ im Monat einbrachte. Im Jahr 2007, als die Zahl der Nutzer auf 10.000 stieg, beschlossen die beiden jedoch, das ­Unternehmen Vollzeit zu betreiben. In Anbetracht dessen, was passieren kann, wenn externe Investoren die Kontrolle übernehmen, schlugen sie das Geld der Risikokapitalgeber aus. Stattdessen reinvestierten sie ihre Gewinne und schworen sich, jeden Monat ein neues Feature zu liefern, um ihre besser finanzierten Wett­bewerber zu übertreffen.

Mailchimp gab seinen Mitarbeitern stets Gewinnbeteiligungen statt Unternehmensanteile. Gleichzeitig stellte man Stabilität über Wachstum. Aber das ­Unternehmen ging viral und wuchs dennoch schnell, vor allem dank Mundpropaganda und einem ausgeklügelten Marketing, etwa einem Sponsoring des beliebten Podcasts „Serial“ im Jahr 2015. E-Mail blieb jedoch das A und O für Mailchimp. Doch Kurzius begann, die Kunden nach ihren Wünschen zu fragen, und unternahm jedes Jahr acht bis zehn Reisen durch das ganze Land, um mit Kleinunternehmern zu sprechen. Er stellte sich stets als „Dan“ vor und erfuhr, dass Ladenbesitzer und kleine Geschäftsleute Hilfe bei der Werbung auf Facebook, Twitter und Instagram brauchten. Daher fügte Mailchimp einfache Werkzeuge hinzu, um ­So­cial-Media-Kampagnen durchzuführen. Die Benutzerfreundlichkeit hat für das Unternehmen nach wie vor einen hohen Stellenwert.

„Mailchimp hat mir das ­Leben leichter gemacht“, sagt Hrag Kale­bjian, ein Kaffeeröster in ­dritter ­Generation bei Henry’s House of Coffee in San Francisco. „Es erlaubt mir, mich auf andere Bereiche des Geschäfts zu konzentrieren. Ich muss mir keine Sorgen machen, potenzielle Kunden zu verlieren.“ Jetzt, nach Monaten der Arbeit hinter den Kulissen, enthüllen Chestnut und Kurzius das, was Chestnut als ihren „zweiten Akt“ bezeichnet.

Einige neue Projekte sind ausgesprochen Lowtech, wie z. B. das Testen von gedruckten ­Postkarten; die Kunden verschickten in ­diesem Sommer 25.000 davon. ­Andere Ideen sind viel anspruchsvoller. Durch die Verfolgung der Kundenbasis eines Unternehmens über ­jeden Interaktionspunkt hinweg – zum Beispiel Facebook, E-Mail oder im Geschäft – will Mailchimp die E-Mail-Listen, mit denen ­alles begann, ergänzen und weitere Zielgruppen hinzufügen: etwa Kunden, die in den letzten sechs Monaten keinen Kauf getätigt haben. Solche Funktionen sind bei ­teurerer Software wie etwa jener von ­Salesforce schon Standard; Mailchimp versucht, sie für kleine Unternehmen erschwinglich zu machen.

„Wir können diese Technologie demokratisieren“, sagt John Foreman, Produktchef von Mailchimp. „Es ist, als würden wir den ­Göttern das Feuer stehlen.“ Diese neue Herausforderung hält auch Chestnut und Kurzius weiterhin im Unternehmen. Die beiden sehen Mailchimp als Lebensaufgabe, auch, wenn sie jetzt Familien haben und Stiftungen gründen: Jene von Chestnut ist die erste, die zehn Mio. US-$ zur Verfügung stellt, um gemeinnützigen Organisationen in Georgia zu helfen. An die Öffentlichkeit gehen? Nicht der Mühe wert, sagt Chestnut. Verkaufen? Die Gründer schauen ungläubig. „Bis heute ist es ein schönes Gefühl, helfen zu können“, erklärt Kurzius. Chestnut bekräftigt: „Die Leute sollen sehen, dass die letzten 17 Jahre erst der Anfang waren.“

Text: Alex Konrad / Forbes US
Übersetzung: Wolfgang Steinhauer
Foto: Jamel Toppin für Forbes US

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