The „Moscot Way“

Harvey Moscot leitet das gleichnamige Familien­unternehmen in vierter Generation – ein Besuch in der ­Zentrale in der Lower East Side, wo Moscot seit einigen ­Jahren gemeinsam mit seinem Sohn Zack versucht, mehr als hundert Jahre Geschichte in Brillen zu verpacken.

Es ist ein warmes, wohliges Gefühl, das aufkommt, wenn man den Shop in der Orchard Street 94 in New York, USA, betritt. Der Boden und die Kästen, die Hunderte Brillen ausstellen und an denen alte Fotos hängen, sind klassisch in braunem Holz gehalten; die Wände und das Licht sind gelblich warm. Die Läden hinter der Theke stammen aus 1936. Alles erinnert ein wenig an einen Antiquitätenladen – so ziemlich alle Wände sind voll geräumt und neben den Brillen stehen Ausstellungsköpfe, alte optometrische Geräte, alte Koffer und Schreibmaschinen. Ein wenig scheint die Zeit hier eingefroren, auch wenn moderne Elemente durchscheinen, wie das neue Logo an der Theke oder die pinken Neonröhren in Form einer Brillenfassung. „Er ist oben“, gibt uns der Store-Manager Auskunft, als wir uns vorstellen.

„Er“ ist Harvey Moscot, der das gleichnamige Unternehmen in vierter Generation führt; und „oben“ ist die Moscot-Zentrale. Computerbildschirme reihen sich aneinander, dazwischen stapeln sich Zettel. „Es ist ein wenig unordentlich“, gibt Moscot zu, als er uns die Hand schüttelt. „Alles gut“, versichern wir ihm – für ein Interview reicht das allemal.

1915 gegründet ist Moscot heute ein globales Unternehmen mit 42 eigenen Geschäften in Nordamerika, Europa und Asien; bis 2030 soll die Zahl auf rund 50 Shops steigen. Dazu kommen über 2.500 lizenzierte Reseller in über 50 Ländern. Das Familienunternehmen, das sich ausschließlich in der Hand der Moscots befindet, stellt unzählige Modelle her und weltweit fast 300 Mitarbeiter an. Die Preise im Onlineshop reichen von 350 € bis 420 € für optische bzw. 115 € bis 470 € für Sonnenbrillen; Sondereditionen oder personalisierte Brillen können mehr kosten. Mit ihren dicken Acetat-­Rahmen sind sie dafür bekannt, von prominenten Künstlern, Schauspielern oder Musikern getragen zu werden: Andy Warhol, Paul Rudd, Cristiano Ronaldo oder John Lennon wurden alle irgendwann einmal mit einer Moscot auf der Nase gesehen. An den Wänden des Shops hängen Bilder der Stars mit den Brillen, doch Harvey Moscot spielt das runter: „Wir hatten nichts damit zu tun, dass King Charles unsere Brillen trägt.“ Das Unternehmen bezahle keine Testimonials oder gebe Brillen gratis oder vergünstigt her, betont er.

Wie also ist es dazu gekommen, dass die Brillen dieser Marke in den Gesichtern solcher Menschen sitzen? Und was plant das US-amerikanische Unternehmen in Europa?

Harvey Moscots Urgroßvater Hyman, ein Optiker, kam 1899 aus Weißrussland in die USA und begann in der Lower East Side, aus einem Handkarren Brillen zu verkaufen. Sein Sohn Sol, der 1925 ins Geschäft einstieg, übersiedelte Moscot an die Ecke von Orchard Street und Delancey Street, wo das Unternehmen für die nächsten acht Jahrzehnte sein Zuhause haben sollte. Sol wurde in den USA geboren, und er war es, der ­Mos­cot zu einem größeren Business machen wollte. Die „Great Depression“ der 1930er-Jahre und der Zweite Weltkrieg machten das schwierig – doch Sol Moscot schaffte es, dass sich das Geschäft (damals hieß die Firma auch Sol Moscot) in der Lower East Side als der Brillenladen schlechthin etablieren konnte.

1986 übernahm Harvey Moscot die Leitung des Unternehmens. „Das Gespräch kam immer wieder auf das Geschäft, den Laden zurück: Wer war heute im Laden? Was hat sich abgespielt? Das ist es, was eine Geschäftsfamilie ausmacht“, erinnert er sich an seine Kindheit. Er selbst wollte eigentlich Musiker werden, stand jedoch als Jugendlicher schon hinter der Theke, um ein wenig „Beer Money“ zu verdienen. Auf Empfehlung seines Vaters studierte Harvey stattdessen – „meine Stimme ist nicht sehr gut“, begründet er das Aufgeben der Musiker­karriere – am New England College of Optometry in Boston, USA, um der erste Augenarzt seiner Familie zu werden.

Wir hatten nichts damit zu tun, dass King Charles unsere Brillen trägt.

Harvey Moscot

Mittlerweile ist auch sein Sohn Zack Moscot ins Geschäft eingestiegen. Er ist der erste Moscot im Familienunternehmen, der kein Optiker oder Augenarzt ist. „Es hat mich nicht begeistert“, sagt er über die Handwerkskunst seiner Familie. „Ich liebe Produkte, ich liebe Design; ich liebe die Art, wie Leute auf unsere Brillen reagieren – aber die Wissenschaft der Optik habe ich nie geliebt.“ Als unser Fotograf anfängt, unser Gespräch zu dokumentieren, fischt Zack Moscot eine Brille aus seiner Brusttasche und setzt sie auf. „Sieht besser auf den Fotos aus“, sagt er mit einem leichten Lächeln. Er sieht auch ohne Brille gut.

Er studierte an der University of Michigan Indus­trial and Product Design, trat 2013 ins Unternehmen ein und wurde im selben Jahr Chief Design Officer. Heute ist er auch Vice President und verantwortlich für das Marketing, die Produkte – „für alles Kreative“, so Harvey Moscot. „Aber als Vater und Sohn überschneiden sich unsere Aktivitäten.“

Die Familie und die Marke Moscot sind seit jeher eng mit der Lower East Side verbunden. Die Gegend im Südosten von Manhattan Island versprüht heute ein wenig Bobo-Flair – es gibt viele kleine Cafés, ­schicke Boutiquen, Pilates-Studios; keine 100 Meter vom Moscot-Store steht ein Cannabis-Laden. Es sah in den Straßen rund um Orchard Street 94 aber nicht immer so aus: Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wanderten viele Juden in die USA aus und ließen sich dort nieder, wie auch Hyman Moscot. New York City wurde die Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerung der USA – und ist es nach wie vor. Dass die laut eigenen Angaben vier Moscot-Bestseller „Lemtosh“, „Dahven“ (Jiddisch für „beten“), „Miltzen“ und „Dolt“ heißen, ist eine Hommage an die jüdischen Wurzeln der Marke.

„Bevor sie gentrifiziert wurde, war sie eher herun­tergekommen und schmutzig“, sagte Harvey Moscot in einem Interview mit der jüdisch-amerikanischen Zeitung The Forward aus dem Jahr 2015 über die Lower East Side. „Sie hatte etwas Besonderes an sich: Hier lebten die Künstler. Deshalb haben wir immer Künstler und kreative Menschen angezogen. Das war unsere Zielgruppe.“ In den späten 1980ern und 1990ern begannen Filmproduzenten und Stylisten, Moscot-Brillen für ihre Produktionen zu bestellen. „Johnny Depp trug eine Mos­cot in ‚Secret Window‘, und das war großartig – er hat sie danach behalten. Er liebte sie. Er wollte mehr“, so Moscot zu uns. Sein Sohn springt ein: „Oft ist es auch umgekehrt: Wir haben Kunden, etwa Paul Rudd, die am Set sagen: ‚Ich setze meine Brille nicht ab. Macht sie zu einem Teil meines Charakters!‘“

Das habe sich organisch entwickelt, betonen beide. Sie hätten nie Geld dafür ausgegeben, ihre Brillen in Filmen oder Sendungen zu platzieren. Auch die moderne Version davon, Influencer-Marketing, lehnen sie ab: „Das ist einfach eine Regel der Marke“, so Zack Moscot.

2012 eröffnete die erste Moscot-Filiale außerhalb von Manhattan, in Brooklyn. Das erste Geschäft im Ausland öffnete in Südkorea seine Türen; heute hat Moscot außerdem Filialen in Großbritannien, Kontinentaleuropa, Japan, China, Kanada und Australien. In den letzten zwei Jahren ist die Präsenz im stationären Handel um mehr als 60 % gestiegen, sagt eine Sprecherin des Unternehmens. Das erste Moscot-Geschäft in der DACH-Region sperrte 2022 in Zürich auf, und auch die europäische Zentrale ist in der Schweiz (in Lugano) stationiert. Der Umsatz des Familienunternehmens ist nicht öffentlich; eine Sprecherin sagt nur, dass die Nachfrage nach den Brillen in allen Märkten zunimmt und dass das Onlinegeschäft von 2018 bis 2023 um mehr als 250 % gewachsen ist.

Moscot expandiert aber mit viel Bedacht auf die Marke. Die Zentrale in den USA kontrolliert, wie die Geschäfte im Ausland eingerichtet sind. Das Wiener ­Geschäft in der Nähe des Stephansplatzes etwa erinnert stark an das in der Lower East Side; die Einrichtung vermittelt dieselben heimeligen Gefühle. Angeblich ­haben die Moscots „so gut wie“ jeden ihrer Läden handverlesen. „Wir sind auf der Suche nach dem perfekten Platz sicher zwei Tage lang durch Wien spaziert“, so Harvey Moscot. (Er fügt hinzu: „Auch, weil wir große Mengen an Wiener Schnitzel verdauen mussten!“) Ein Geschäft müsse in einer Gegend mit viel Fußgängerverkehr liegen. Wichtig sei aber auch, dass das Umfeld zur Marke passt – ein hochmodernes Gebäude mit einer großen Glasfront sei nicht so interessant wie etwas Kleineres, das mehr Charakter habe, sagt er. Auch die Menschen, die die Gegend frequentieren, seien wichtig.

Moscot ist eine traditionelle Marke in einem Markt, in dem sich zurzeit relativ viel bewegt. Analysen der Bank Barclays deuten darauf hin, dass Smart-Brillen die disruptivste Innovation seit dem Smartphone sein könnten, und sagen vorher, dass bis 2035 60 Millionen solcher Brillen verkauft werden. Im Oktober sprang die Aktie von Essilor Luxottica, dem Konzern hinter Marken wie Ray-Ban und Oakley, auf ein Allzeithoch – von 270 € auf 315 € (rund 14 %) kletterte der Preis, der Konzern legte fast 20 Mrd. US-$ (rund 17 Mrd. €) an Marktwert zu. Grund dafür ist einerseits ein starkes drittes Quartal, andererseits wird der Enthusiasmus der Investoren von der neuen Smart-Brille getrieben, die Ray-Ban gemeinsam mit dem Internetriesen Meta präsentierte.

„Wir sind keine Tech-Firma. Ich denke, wenn wir uns diesem Markt nähern, würden wir das innerhalb eines bestimmten Rahmens und mit den Prinzipien machen, die uns wichtig sind“, sagt Zack Moscot zu dem Thema. Smarte Funktionen sollen die Sehtüchtigkeit nicht beeinträchtigen. Die ikonischen Rahmen der Brillen sollen ihren Wiedererkennungswert behalten und die Designs nicht stark verändert werden, um neue Technologien unterzubringen. Die Brillen sollen leicht genug bleiben, um sie ohne Probleme den ganzen Tag lang tragen zu können, was mit vergangenen Smart-Brillen nicht der Fall war.

Zack Moscot scheint sich mit dem Thema intensiver auseinandergesetzt zu haben als sein Vater, doch die beiden sind derselben Meinung: „Wir stecken ­unseren Kopf nicht in den Sand. Alles ist möglich, aber wir ­machen es ‚the Moscot way‘“, sagt Harvey Moscot.

Der Geschäftsführer wird bald 65 Jahre alt. Sein 35-jähriger Sohn übernimmt nach und nach ­Aufgaben – und Anteile am Unternehmen – von ihm. Für die näch­sten Jahre stehe in erster Linie auf der Agenda, die internationale Expansion weiter voranzutreiben: Rund zehn weitere Geschäfte sollen bis 2030 aufsperren (was viele Stadtrundgänge bedeutet, wenn der Moscot-Chef weiterhin alle Standorte selbst bestimmen möchte). Das soll aber in einem gemächlichen Tempo gehen. Ein Investor würde das Wachstum beschleunigen, gibt Zack Moscot zu, und sie bekämen auch „die ganze Zeit“ Anfragen. Aber sein Vater sagt: „Wir haben 110 Jahre gebraucht, um 42 eigene Shops zu haben. Wozu die Eile?“

Fotos: Jason Crowley

Erik Fleischmann,
Redakteur

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