Verpasst Europa die Zukunft der Medizin?

Die „Gen-Schere“ CRISPR/Cas9 könnte unsere Medizin revolutionieren. Rodger Novak, Mitbegründer von CRISPR Therapeutics, will die Technologie monetarisieren. Doch Europa macht ihm das alles andere als leicht.

Als Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2012 die ­Grundlage für CRISPR/Cas9 legten, konnten sie die Möglichkeiten dieser innovativen Technologie nicht einmal ansatzweise erahnen. Denn die beiden Forscherinnen hatten gerade ein ­potenzielles Werkzeug gefunden, um Menschen, Tiere und Pflanzen nach Belieben zu verändern und neu zu codieren – und zwar so günstig und schnell wie nie zuvor. Egal, ob das Heilen von tödlichen Krankheiten oder das Züchten von Supergemüse, das jedem Wetter standhält: Die Technologie schien plötzlich grenzenlos.

CRISPR selbst wurde ­bereits 1987 erstmals in der Forschung entdeckt. Das Revolutionäre an CRISPR/Cas9 – auch „Gen-­Schere“ genannt: eine zuvor nicht annähernd erreichte Präzision. Durch die Herbeiführung von Mutationen in bestimmten Abschnitten der DNA können mithilfe des Cas9 Enzyms Gene repariert, neu eingefügt oder nach Belieben bearbeitet werden. Auch das „An- und Abschalten“ von Genen (Genregulierung genannt, also das Außerkraftsetzen gewisser Gene, Anm.) ist genauer geworden; gleichzeitig ist das Risiko, andere Regionen eines Genoms zu beeinflussen, gesunken. Biotech-Labors auf der ganzen Welt benutzen die Methode heute für ihre Forschung. Dennoch gibt es nur wenige echte Unternehmen, die die neue Technologie für die ­Anwendung am Menschen vorantreiben. CRISPR Therapeutics rund um Mitgründer Rodger Novak ist ­eines davon. Novak, ehemaliger CEO und aktuell Präsident und Chairman von CRISPR Therapeutics, wurde 2000 nach einem sechsjährigen Aufenthalt in den USA ans Biozentrum nach Wien geholt. Damals war CRISPR aber noch kein ­Thema. Zehn Jahre später erhielt Novak dann jedoch einen folgenschweren Anruf von seiner ehemaligen Kollegin Emmanuelle Charpentier.

Zu dieser Zeit leitete Novak bei dem französischen Pharmakonzern Sanofi die weltweite Forschung und Entwicklung des Antiinfektiva-Portfolios. Nach längerer Bedenkzeit und Gesprächen mit seinem kanadischen Kollegen Shaun Foy ­merkte Novak, dass er mit CRISPR/Cas9 eine revolutionäre Technologie vor der Nase hatte. Ende 2013 gründete er zusammen mit Foy und Charpentier CRISPR Therapeutics. „Vor vier Jahren saßen wir noch zu fünft in einem kleinen Büro in ­Basel“, erinnert sich Novak. 2015 kam der Durchbruch: Novak und ­Kollegen sammelten innerhalb kürzester Zeit erst 100 Mio. US-$, dann ­weitere 175 Mio. US-$ Risikokapital ein – unter anderem durch eine Partnerschaft mit dem deutschen Chemiekonzern Bayer. Seit Oktober 2016 notiert CRISPR Therapeutics an der US-Techbörse Nasdaq und beschäftigt heute über 160 Mitarbeiter in der Schweiz (Zug) sowie in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts.

Novak ist ein umtriebiger Mann. Verständlich, denn längst ist sich auch die Fachwelt der Möglichkeiten bewusst, die CRISPR ­bieten könnte. Medizinisch ­könnte die Technologie künftig etwa dafür genutzt werden, um mittels Zelltherapien ­Tumorerkrankungen zu behandeln. Ebenso wäre es möglich, Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes zu therapieren. „All diese Programme befinden sich weltweit bereits im Stadium der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung“, sagt Novak. Dennoch könnte es zehn bis 15 Jahre ­dauern, bis CRISPR tatsächlich als Standardtherapie zum Einsatz kommt.

CRISPR Therapeutics selbst hat mehrere Programme in der präklinischen Entwicklung. Vor einigen Monaten hat die Firma als erstes Biotech-Unternehmen weltweit die Genehmigung von den europäischen und US-Behörden erhalten, klinische Studien für die Therapie der Bluterkrankungen Beta-Thalassämie und Sichelzellenanämie durchzuführen. Beide Krankheiten sind gekennzeichnet durch den ­vermehrten Abbau der roten Blutkörperchen durch eine angeborene Fehlbildung. Patienten mit diesen ­Erkrankungen werden in der Therapie Blutstammzellen entnommen, die außer­halb des Körpers mithilfe von CRISPR derart genetisch verändert ­werden, dass sie nach Rückführung ­mittels Knochenmarktransplantation den Patienten heilen. Diese sogenannten Ex-vivo-Therapien werden im Rahmen von CRISPR bisher am häufigsten eingesetzt. Bei In-vivo-­Therapien, also dem Eingriff direkt am Patienten, werde es erst in den nächsten Jahren klinische Studien geben.

Rodger Novak
studierte Medizin in Deutschland und den USA. Ab 2001 arbeitete er an der Universität Wien, bevor er in die Privatwirtschaft wechselte, wo er unter anderem für Sanofi tätig war. 2013 gründete er mit Emmanuelle Charpentier und Shaun Foy CRISPR Therapeutics.

Aber wie funktioniert die Methode? Der Name CRISPR/Cas9 setzt sich aus zwei Teilen zusammen: „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“ und dem Namen des Enzyms Cas9. Das System basiert auf einer Art adaptiver Immunabwehr. Wird ein Bakterium zum ersten Mal von einem Virus angegriffen, schneiden sogenannte Cas-Enzyme dessen DNA in kleine Stückchen. Diese DNA-­Stücke werden in bestimmte, sich wiederholende Abschnitte des Bakteriengenoms eingefügt. Diese werden als „CRISPR-Abschnitte“ bezeichnet. Sie dienen als eine Art Archiv. Bakterien wissen dadurch, welche Viren schon einmal angegriffen haben, und zerstören ­diese sofort. In diesem Prozess spielt das Enzym Cas9 eine wichtige Rolle. Es findet die doppelsträngige DNA und schneidet sie an einer von der RNA vorgegebenen Stelle. Die RNA lässt sich mit beliebigen Sequenzen künstlich produzieren. Das bedeutet: Jedes Genom kann an jeder Stelle beliebig verändert werden.

Manche Mediziner sprechen bei CRISPR von einem Quantensprung. Dennoch gibt es ethische Fragen, die angeregt diskutiert werden. Dabei stehen vor allem genetische Veränderungen der menschlichen Keimbahn, also Eingriffe bei Embryos, im Fokus der Kritik. Die chirurgischen Eingriffe in das Erbgut, so fürchten die Kritiker, könnten dazu führen, dass solche Verfahren unseren Maßstab in Richtung Perfektion verschieben. So könnte das Erbgut im Embryostadium verändert werden, um „­Designerbabys“ zu produzieren. Tatsächlich veränderten chinesische Forscher der Sun-Yat-sen-Universität in Guangdong das Erbgut von 86 nicht entwicklungsfähigen Embryonen, um das schadhafte Gen zu reparieren, das später zur Thalassämie führt. Das Experiment glückte nur viermal.

In der Branche sei man sich der Brisanz des Themas durchaus bewusst, sagt Novak. ­Jennifer Doudna organisierte 2015 einen Ethik­gipfel in den USA. „Natürlich müssen wir die Richtlinien der jeweiligen Arzneimittelbehörden erfüllen, die sich an der wissen­schaftlichen Reproduzierbarkeit und an den Sicherheitsaspekten orientie­ren“, sagt er. Ginge es nach ­Novak, müsste Europa beim ­Thema CRISPR/Cas9 aufholen. Denn die Methode soll künftig neben der Medizin auch in der Landwirtschaft eingesetzt werden. „Wenn ich eine bestimmte Tomatensorte züchten möchte, dauert das heute ­Jahre“, sagt Novak. Mit CRISPR könnte man ganz bestimmte Sorten nach wenigen Monaten erschaffen. Doch es geht nicht nur um die Schnelligkeit in der Herstellung. „Wenn wir an den Klimawandel denken, ­könnte sich CRISPR ebenfalls als ­nützlich erweisen“, erklärt der Deutsche. Mais oder Weizen könnten genetisch verändert werden, damit sie extreme Trockenperioden oder ­starke Feuchtigkeit überleben.

Um all das voranzutreiben, braucht es in Europa ­Innovationen. „Es mangelt uns nicht an Ausbildung oder Qualifikation, sondern an der richtigen Einstellung“, so Novak. In Sachen Biotech könne Europa mit den USA in keinster Weise mithalten. China stelle ebenso eine große Konkurrenz dar. Eines der Pro­bleme in Europa sei die Finanzierung im Biotech-Bereich, so der Mediziner weiter. Es gebe nahezu keine europäischen Risikokapital­geber, die derart große Summen stemmen. US-Riesen investieren selten in europäische Unternehmen, da sie etliche gute Investitionsmöglichkeiten vor ihrer Haustür finden.

Das zweite Problem: In europäischen Unternehmen sitzen hoch qualifizierte Mitarbeiter, die innovativsten Köpfe finden sich aber in den USA, weil sie dort ihre Ideen umsetzen können. Die dritte Schwierigkeit: Die Gründer wollen gleichzeitig Manager sein. Doch ein Unternehmen mit einem Finanzierungsvolumen von mehreren 100 Mio. € zu führen bedeute etwas ganz ­anderes, als ein medizinisches Labor zu leiten, sagt Novak. „In den USA arbeiten Forscher Hand in Hand mit Gründern und Managern, weil sie begreifen, dass sie profitieren“, erklärt Novak. In der Europäischen Union nimmt die Entwicklung gerade eine ­andere Richtung: Erst kürzlich entschied der Europäische Gerichtshof, dass CRISPR in der Landwirtschaft unter die Gentechnik-Richtlinien fällt und somit jahrelangen Regularien unterlegen ist. Organismen, die als gentechnisch verändert definiert werden, unterliegen in der EU strengen Auflagen. Die Folge: langwierige und teure Zulassungsverfahren. „Solche Entscheidungen haben ­massive Auswirkungen auf Europas Wirtschaft“, so Novak. Europa bekomme keinen Zugang zu Technologien.

Die Forschung von CRISPR Therapeutics geht jedenfalls weiter. Novaks Vision ist es, innerhalb der nächsten drei bis vier Jahre bis zu zehn Projekte in die klinische Entwicklung zu bringen und innerhalb der nächsten fünf bis sechs Jahre ein Produkt zu entwickeln, das die klinische Zulassung bekommt. Der Forscher weiß, dass Europa vor allem zwei Dinge braucht, um Innovationen voranzubringen: Ausdauer und Überzeugungskraft. Ob die EU das Innovationspotenzial hinter CRISPR erkennt, bleibt abzuwarten.

Text: Manuela Tomic
Fotos: Florian Rainer / eiland.wien

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