„Verrückte Preise“

Der schillernde russische Unternehmer und Kreml-Kritiker Jewgenij Tschitschwarkin betreibt in London einen der exklusivsten Spirituosenläden der Welt. Seine Kunden sammeln Whiskey und Wein wie Kunstwerke – nicht nur zum Genießen, sondern vor allem, um Vermögen abzusichern. Ein Lokalaugenschein.

Ein riesiger Plüschhase blockiert den Gehsteig auf der Davies Street im Londoner Nobelviertel Mayfair. Das Tier hält sich an Schnüren fest, an deren Ende bunte Ostereier befestigt sind. Wie Luftballons ziehen sie den Rammler gen Himmel. Jewgenij Tschitschwarkin schaut zufrieden. Seine Mitarbeiter zerren den Hasen an den Ohren in Position; schon machen Passanten Fotos von der extravaganten Osterdekoration vor der Luxus-Weinhandlung Hedonism Wine. Der russische Unternehmer Tschitsch­warkin liebt eine gute Show – auch sein Laden steht, wie der Name schon sagt, für Dekadenz und Spaß.

Der 48-jährige Tschitschwarkin wirkt mit seinem gezwirbelten Salvador-Dalí-Schnurrbart, dem schon etwas reiferen Lausbuben­gesicht und dem scharlachroten Wollmantel wie ein Dandy, der den Geist des Fin de Siècle beschwören will. Dieses Lebensgefühl war die Reaktion auf die Ängste und den Militarismus vor dem Ersten Welt­krieg, die letzte dekadente Party vor einer neuen Ära der Finsternis. So gesehen wirken Tschitschwarkin und sein Geschäft vielleicht doch zeitgemäßer, als man es wahrhaben will. Seit 2012 bieten in Londons nobelster Wein- und Spirituosenhandlung 16 Sommeliers 3.000 Sorten Gin, Rum, Wodka, Whiskey, Sake und Tequila an. In Regalen und Vitrinen lagern Schätze wie ein 55 Jahre alter Yamazaki Single Malt, der so viel kostet wie ein Eigenheim: 650.000 Pfund, mehr als 700.000 €. Dagegen wirkt der Macallan Genesis, der älteste Single Malt (der im Zweiten Weltkrieg zu reifen begann), wie ein Schnäppchen: Er ist unter einer halben Million Pfund zu haben. „Es ist verrückt, wie sich die Preise entwickelt haben“, sagt der in Leningrad geborene Unternehmer, der lieber Wein als Whiskey trinkt.

Für seine Kunden sind seine Waren nicht nur Genussmittel, sie sind vor allem Wertanlage. „Manche stellen eine teure Flasche aus wie ein begehrtes Kunstwerk“, sagt Tschitsch­warkin. Für diese Statussymbole lassen sie die Hedonism-Mitarbeiter gezielt nach seltenen Marken und Jahrgängen suchen und warten oft Jahre, bis sie ihren Schatz in den Händen halten. Zwar bekommt man bei Tschitschwarkin auch einen Riesling für unter 50 € – eher lohnt sich das Geschäft aber mit jungen Milliardären aus Fernost, die ihren seltenen Scotch online kaufen und dann den Privatjet zur Abholung schicken. Gerade indische und chinesische Super­reiche haben ein Faible für schottischen und amerikanischen Whiskey.

Luxus-Sachwerte wie edle Weine, Oldtimer, Uhren oder Möbel haben zuletzt stark an Wert zugelegt. Die Preise für Premiumweine und -champagner stiegen laut der London International Vintners Exchange, einer globalen Weinbörse, um bis zu 30 %. Die Verbraucher kehrten nach dem Ende der Pandemie in die Restaurants zurück und gaben während der Lockdowns angesparte Mittel aus – gerade in der Luxusgastronomie. Auch kommt Weininvestoren die eher trübe Wirt­schaftslage zugute; sie schätzen den Nischenmarkt auch als Absicherung von Vermögen gegen steigende In­flation und fallende Finanzmärkte. Vor allem Whiskey gilt inzwischen als „flüssiges Gold“: In den letzten zehn Jahren ist sein Wert im Schnitt um mehr als 400 % gestiegen, im Jahr 2030 könnte der Markt weit mehr als 145 Mrd. US-$ wert sein. Allein rund 100 Mio. US-$ wurden mit seltenem Scotch umgesetzt. Ein kleiner Kreis an Vermögenden nutzt Whiskey als wohlschmeckendes Asset, das noch dazu eine herausragende Rendite bringt.

Die Erzeugnisse vom Markt verschwundener Highland-Destillerien sind heute besonders gefragt und haben sich in der vergangenen Dekade preislich verzehnfacht. Doch nicht nur der Whiskey an sich ist wertvoll, auch die Fässer, in denen er reift: Manche Casks beinhalten Hunderte oder Tausende wertvolle zukünftige Flaschen Whiskey und sind daher eine beliebte Wertanlage. Manche Investoren kaufen sich gleich in die gesamte Destillerie ein: 70 % der schottischen Erzeuger sind in der Hand von Investoren aus dem Ausland. Der französische Luxuskonzern LVMH und sein CEO und Chairman Bernard Arnault etwa kontrollieren die Ardbeg Destillerie auf Islay sowie Glenmorangie, der Schweizer Milliardär Hansjörg Wyss kaufte sich bei Glenturret Scotch Whiskey ein.

Jewgenij Tschitschwarkin mit seiner Lebensgefährtin Tatiana Fokina und dem Starkoch Ollie Dabbous in seinem Londoner Sternerestaurant Hide.

Auch Tschitschwarkin war einmal einer der reichsten Menschen der Welt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion grün­dete er mit 22 Jahren mit einem Partner die Mobiltelefonkette Euroset. Das Geschäft boomte;
in wenigen Jahren standen 5.000 Filialen und Tschitsch­warkin wur­de zum reichsten Russen unter 35. Nach­dem er sich über die Machtgier des autoritären Präsi­denten Putin und dessen korrupte Beamte beklagte, musste er sich 2009 ins Ausland absetzen. Er hatte von einer drohenden Festnahme erfahren und flüchtete mit seiner damaligen Frau und den beiden Kindern nach London.

Früher kauften auch seine Nachbarn aus „Chelski“, wie das einst bei Oligarchen beliebte Londoner Stadtviertel Chelsea genannt wurde, bei ihm ein – doch seit der russischen Invasion in der Ukraine sind einige von ihnen nicht mehr erwünscht. Tschitschwarkin verurteilt die Invasion, unterstützt die Ukraine und finanziert schon lange russische Oppositionelle. Er bezahlte auch Alexei Nawalnys Krankenhausbehandlung in Deutschland, nachdem der Kreml-Kritiker vor drei Jahren Opfer eines Nowitschok-Giftanschlags geworden war. Seit seiner Flucht war Tschitsch­warkin nie wieder in Russland; den größten Teil seines Vermögens musste er zurücklassen.

Dass er im Ausland als Unternehmer fast wieder bei null anfangen musste und dennoch Erfolg hatte, erfüllt ihn rückblickend mit Stolz: „London war für mich der richtige Ort. Wäre ich nach Berlin gegangen, wäre ich wahrscheinlich faul geworden und hätte nur ge­feiert.“ Stattdessen warb er mit Alistair Viner den Chefeinkäufer von Harrods ab. Der stellte Tschitsch­warkins Sammlung (geschätzter Wert: zehn Mio. Pfund) zusammen. Inzwischen betreibt der Unternehmer auch das Sternerestaurant Hide, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Tatiana Fokina, einer ehemaligen Kunsthändlerin aus St. Petersburg. Küchenchef ist der umjubelte Starkoch Ollie Dabbous.

Welchen seiner edlen Tropfen Tschitsch­warkin für einen besonderen Anlass aufbewahrt? Der Weinliebhaber zwirbelt seinen Schnurrbart und überlegt. Dann geht er zu einem separaten Weinlager. Dort kniet sich der Exilrusse auf den Boden, schaut ins unterste Regal und murmelt: „Hier muss sie doch sein!“ Schließlich greift er nach einem weißen Burgunder, einem Montrachet Ramonet, Jahrgang 1995; Preis: 48.800 Pfund. Zufrieden hält Tschitschwarkin die Flasche ins Licht und sagt: „Ein wunderbarer Wein. Der ist reserviert für den Tag, an dem Putin stirbt.“

Text: Reinhard Keck
Fotos: Perou

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