Viele Mitgestalter, mehr Druck

Die Swisscom will ihre Organisation agiler machen. Personalchef Hans C. Werner erklärt, wie das geht.

Seit rund vier Jahren experimentiert die Swisscom in einigen Abteilungen mit agilen Arbeitsformen. Macht der Telekommunikationsriese einen auf Google?
Nein, überhaupt nicht. Wir imitieren niemanden, wir suchen unsere eigene DNA und entwickeln diese kontinuierlich weiter. Wenn ein U-Boot-Kapitän auf seinem Boot Platz für 120 Leute hat, dann kann er diese Personen entweder einfach nur hierarchisch kommandieren, oder er kann alle aktiv miteinbeziehen. Dann hat er eine viel größere Gestaltungskraft, wenn alle Hirne gemeinsam genutzt werden, als wenn nur eines denkt und 120 dann nur ausführen.

Wenn ich aber erst 120 Personen nach ihrer Meinung fragen muss, dann bedeutet das auch längere Entscheidungswege.
Wenn Sie hierarchisch denken, dann schon. Wenn Sie jeden Mitarbeiter befragen, am besten noch mit anonymen Fragebogen, diese dann auswerten, und dann erst bestimmen, verlieren Sie Zeit. Wenn Sie aber in kleinen Gruppen Vorgehensweisen beschließen, diese eine Woche lang ausprobieren, und sich danach wieder zusammensetzen, dann kombinieren Sie Gestaltung mit schnellen Abläufen. Wir müssen nicht erst ein Jahr entwickeln, dann ein Jahr lang testen, und 2020 könnte das Produkt vielleicht auch bei uns erhältlich sein. In kleinen Gruppen können wir einfach viel schneller und näher beim Kunden reagieren. So können wir in viel schnelleren Abläufen erste Lösungen mit Kunden diskutieren, eine fertige Lösung anbieten und diese viel schneller auf den Markt bringen.

Nun beschäftigt die Swisscom in der Schweiz rund 18.000 Mitarbeiter. Braucht es da nicht eigentlich mehr Führung als ein „Laissez faire“?
Wenn da einer so auf der Couch hockt, einen Burger isst, dabei das Handy in der Hand hält und das Gefühl hat, er würde nebenbei noch etwas arbeiten – diese Bilder sind fernab von der Realität. Agiles Arbeiten hat nichts mit „laissez faire“ zu tun. Agiles Arbeiten ist sogar viel disziplinierter als unter einem Vorgesetzten, der einem jeden zweiten Tag mal auf die Finger schaut. Da sitzen sechs bis acht Leute, jeder hat eine ­bestimmte Verantwortung. Die besprechen Montagmorgen miteinander, was sie in der letzten Woche getan haben, woran sie gescheitert sind, was sie sich vornehmen, was sie von ihren Kollegen brauchen. Dann setzen sie sich eine Woche später wieder zusammen und schauen sich die Bilanzen an. Das ist hochdiszipliniert und hat eine hohe Dynamik, es ist nicht nur der Chef, der dann nachfragt, wenn nicht geliefert wird, es ist eine ganze Gruppe.

„Never change a running system“ lautet eine alte Weisheit. War das alte Swisscom-System nicht mehr profitabel?
Heute müssen Firmen ihr „running system“ laufend überprüfen, ob es auch in Zukunft „winning“ ist. Das ist die große Herausforderung der Digitalisierung. Ich muss mich als Unternehmer immer selbst hinterfragen: Bin ich in einem „winning system“, oder habe ich einfach nur ein „running system“ weitergepflegt?

Dann haben die bisherigen ­Arbeitsabläufe bei der Swisscom nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt? Oder woher sonst kommt diese Freude am Experimentieren?
In der Zeit, in der ­patriarchalische Strukturen sehr weit verbreitet waren, gaben diese gleichzeitig eine gewisse Sicherheit und Stabilität. Das war aber auch eine Zeit, in der diese drastischen Veränderungen, wie wir sie heute erleben, nicht so schnell aufeinander gekommen sind, und wo auch Menschen über mehrere Generationen hinweg in ähnlicher Art miteinander gearbeitet haben. Diese Konstanz hat sich verändert. Die digitale Transformation unserer Arbeitswelt unterscheidet sich in Schnelligkeit, technologischer Reichweite und Wirkung fundamental von allem, womit wir bisher konfrontiert waren. Zudem sehen wir viele Mitarbeitende, die mitgestalten wollen. Wenn permanent einer hinter ihnen sitzt und ihnen sagt, was sie zu tun haben, dann empfinden sie das als wenig spannend, dann gehen sie wieder. Wir erleben viele Bewerber, die zu uns kommen, die ambitioniert sind – dabei geht es ihnen nicht um Geld, um ein bestimmtes Karrierebild, sondern um spannende Projekte und die Möglichkeit der Mitgestaltung.

Swisscom AG

Bewerber fragen in Vorstellungsgesprächen also gezielt nach einem eigenen Mitspracherecht?
Ja, insbesondere Mitgestaltung und Eigenverantwortung sind heute sehr wichtig. Die Mitarbeitenden sind in erster Linie an spannenden Projekten interessiert. Wenn ihnen das nicht geboten wird, dann kommen sie erst gar nicht oder gehen rasch wieder. Firmen dürfen also nicht nur die eigene Belegschaft vor Augen haben, sondern müssen das ganze Netzwerk an Mitarbeitern im Auge haben, die vielleicht etwas dazu beitragen können. Früher war auch ein Lebensmodell: Ich gehe zur Swisscom und da werde ich auch pensioniert. In der heutigen Zeit können Firmen diese Sicherheit und Konstanz nicht mehr geben.

Ist das meist noch übliche und auch in der Swisscom noch verbreitete patriarchalische Modell also überholt?
Alt heißt nicht, dass es falsch und das Neue das einzig Richtige ist. Es gibt Situationen, in denen eine ganz starke hierarchische Führung ganz wichtig ist – etwa in Notfall­situationen. Doch bei uns im Haus gibt es viel mehr Situationen, in denen wir mit strenger Hierarchie sehr viel Gestaltungskraft, Euphorie und ­En­thusiasmus zerstören können. Und es sind ja nicht alle Vorgesetzten direktiv, viele holen regelmäßig Feed­backs und Meinungen ein. Agilität lässt sich in verschiedenen Formen etablieren, sowohl in bestehenden Hierarchien als auch in völlig neu gedachten Formen wie Holacracy.

Für den durchschnittlichen Angestellten klingen agile Organi­sationsformen nach mehr Verantwortung und Stress bei gleichem Lohn.
Mehr Mitgestaltung führt automatisch auch zu mehr Mitverantwortung, zu mehr Erfahrung und auch zu mehr Druck – mehr Verantwortung und mehr Erfahrung werden in der Regel mit mehr Lohn abgegolten. Wer gerne mitgestaltet, der wird Druck nicht selten als positiven Stress empfinden. Er kann etwas ­liefern, erreichen, etwas Neues lernen.

Swisscom AG

Eine Triebkraft für effiziente Arbeit ist die Aussicht, in eine Leitungsposition aufzusteigen. Aber genau das gibt es in agilen Organisationen kaum mehr. Wie komme ich zu einer Lohnerhöhung oder Beförderung, wenn ich nicht mehr aufsteigen kann?
Es gibt ja weiterhin Perspektiven, eher mehr sogar. Früher konnte man nur Team- oder Abteilungsleiter werden, und dann war es mit den Aufstiegsmöglichkeiten vorbei. Heute kann der Mitarbeiter immer wieder eine neue Rolle annehmen, seinen Erfahrungsschatz und seine Skills kontinuierlich ausbauen.

Vor allem für Vorgesetzte muss der Rollenwechsel doch sehr schwierig sein.
Natürlich kann das eine Herausforderung sein. Sie müssen loslassen, Vertrauen geben, die Leute in ihren Rollen gestalten lassen, ohne permanent reinzufunken.

Das agile Modell erinnert ein wenig an eine Wohngemeinschaft: Auch dort gibt es keinen direkten Vorgesetzten, und irgendwann beginnt der Ärger damit, dass ein Bewohner den Putzplan nicht einhält. Wie wollen Sie solchen Unmut vermeiden?
Agiles Arbeiten basiert auf sehr offenem Dialog und Feedback: Man spricht es an, man versucht, es zu verstehen, man versucht, zu unterstützen. Es geht um das gemeinsame Ziel, und dafür wird natürlich auch etwas eingefordert.

Was ist mit Personen, die nicht so schnell sind, etwas länger brauchen für ihre Arbeit? Stehen die nicht unter besonderer Bedrängnis, weil sie sich vor ihren Kollegen rechtfertigen müssen?
Haben wir das nicht heute schon? Wir stehen überall im Wettbewerb und wollen alle erfolgreich sein. In agilen Formen werden die jeweiligen Gruppen mit unterschiedlichen Talenten zusammengesetzt, die sich dann ergänzen. Es gibt auch Mitarbeiter, die wollen so weiterarbeiten, wie sie es bisher gewohnt waren, und vielleicht sind Leute auch manchmal am falschen Ort, dann müssen wir das individuell mit ihnen anschauen. Auch bei uns jubeln nicht alle, und natürlich gibt es Hürden.

Kann man denn einem 60-jährigen Mitarbeiter, der schon auf die Rente schielt, noch zumuten, seine gewohnten Strukturen aufbrechen zu müssen?
Wir erleben das sehr gemischt. Wir haben sowohl jüngere als auch ältere Mitarbeiter, die finden das irrsinnig. Es gibt viele Ältere, die sind extrem neugierig. Die möchten noch dazulernen. Das lebenslange Lernen ist unentbehrlich. Wir geben den Leuten aber auch die Zeit und Unterstützung, um diesen Weg mit uns mitzugehen. Wir sind die Nummer eins im Markt und wollen das auch bleiben, entsprechend suchen wir nach Geschwindigkeit und Kundennähe.

Dieser Artikel ist in unserer November-Ausgabe 2017 „Lernen" erschienen.

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