„Wir bauen unser Land wieder auf“

Dima Shvets ist Gründer aus Kiew, Lyubov Guk eine Risikokapitalgeberin aus Donezk. Die vergangenen zwölf Monate haben die ukrainischen Unternehmer erschüttert – doch auch nach einem Jahr Krieg, Tod und Leid haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben.

Mit mehr als 250 Millionen Downloads ist unsere App Reface eine der beliebtesten Anwendungen für Face-Swapping mit künstlicher Intelligenz. Unsere Benutzer können ihre Gesichter auf verschiedene Charaktere projizieren, etwa Prominente und Filmstars, und mit unserer Technologie Avatare von sich selbst erstellen. Zu unseren Fans gehören Stars wie Snoop Dogg, Miley Cyrus, Lionel Messi und Rihanna.

Was als Experiment von drei jungen, technisch versierten Ukrainern begann, ist heute eine Plattform und ein Wegbereiter für die soziale Kommunikation der Zukunft. Und wir verändern die Art und Weise, wie sich Menschen online aus­drücken. Es ist ironisch: Während Russland versucht, unser Land ins Mittelalter zurückzubomben, entwickeln wir und andere uk­rainische Firmen die Spitzen­technologien der Zukunft.

Unser Wille, frei und unabhängig zu sein, ist größer denn je.

Dima Shvets, 35, Gründer und CEO von Reface

Zu Beginn der Invasion haben wir unter unseren Geschäfts­partnern, Investoren und Freunden eine Spendenaktion gestartet. Später haben wir auf dieser Grundlage den Reface-Fonds eröffnet, der regel­mäßig dem Militär und der Zivil­bevölkerung hilft. Einige unserer Mitarbeiter haben sich der ukrainischen Cyberarmee angeschlossen, andere verteidigen die Ukraine auf dem Schlachtfeld.

Der Krieg und die daraus resultierende Wirtschaftskrise im Westen haben auch Tech-Unternehmen hart getroffen. Die großen US-Konzerne Meta, Twitter, Google und andere feuern Tausende von Mitarbeitern. Ich bin stolz darauf, dass wir kein Personal abbauen mussten. Wir arbeiten seit Langem dezentral, was dazu beigetragen hat, unsere Effektivität auch während des Kriegs aufrechtzuerhalten. Heute haben wir 190 Mitarbeiter, von denen die meisten in der Ukraine arbeiten. Wir haben ein Hotel in der Westukraine in eine autarke Festung für jene verwandelt, die zu Hause Probleme mit der Stromversorgung haben. Stromgeneratoren wurden letzten Sommer angeschafft, und dank Starlink haben wir ein stabiles Netz in unserem westlichen Hauptquartier. Wir können trotz russischer Angriffe auf die Infrastruktur völlig autonom arbeiten.

Knapp die Hälfte der Reface-Mitarbeiter sind in Kiew geblieben. Wir haben immer noch das Haupt­büro in der Innenstadt, das unser Personal als Arbeitsplatz und Luftschutzbunker im Falle von Angriffen nutzt. Sogar an Bomben­angriffe, Wasser- und Stromausfälle kann man sich gewöhnen – und einfach weitermachen. So sind wir Ukrainer: Wir geben niemals auf. Wir beweisen Widerstandsfähigkeit unter den schlimmsten Bedingungen.

Der Krieg hat unserem Volk so viel Leid gebracht – aber ein Jahr nach der Invasion habe ich auch Hoffnung. Unser Wille, frei und unabhängig zu sein, ist größer denn je. Wir haben der Welt gezeigt: Wir werden gewinnen. Wir geben nicht auf. Niemand nimmt uns die Freiheit. Alle Menschen in der Ukraine sind noch enger zusammengerückt. Unternehmergeist, Kreativität und Innovation prägen die ukrainische Tech-Szene – und dank dieser Eigenschaften werden wir jetzt unser Land wieder aufbauen.

Lyubov Guk stammt aus Donezk und wanderte nach Großbritannien aus, wo sie als Investorin, Risikokapitalgeberin und Beraterin arbeitet.

Die ersten beiden Kriegsmonate, Februar und März 2022, waren die schwierigsten meines Lebens. Am Tag der Invasion war ich in London, wo ich lebe und arbeite, doch meine Eltern waren in ihrem Heimatdorf Volnovakha in der Oblast Donezk. Dorthin sind sie geflüchtet – nach dem russischen Angriff und der sogenannten „Befreiung“ meiner Heimatstadt Donezk im Jahr 2014.

Am 24. Februar schlugen Bomben im Dorf meiner Eltern ein, eine Rakete direkt in ihr Haus. Doch sie hatten Glück: Bei minus 15 Grad saßen sie im Keller, aßen aus den Konserven, die sie für diesen Notfall gehortet hatten.

Drei Wochen hatte ich kein Lebenszeichen von ihnen. Am 16. März bekam ich von einem Reuters-Journalisten die Nachricht, dass meine Eltern am Leben sind. Der Reporter war ihnen begegnet und hatte auf ihren Wunsch diese Nachricht an mich übermittelt. Ich spürte ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung. Ende April konnte ich sie dann an einen siche­ren Ort bringen.

Ich dachte, dass es emotional einfacher würde, mit dem Krieg zu leben. Doch ich lag falsch. Ich kann mich noch immer nicht abkoppeln. Das Leid, das meine Heimat ertragen muss, ist wie ein Schatten, der mich jeden Tag begleitet.

Ich kann dem ständigen Fluss an Nachrichten und Schreckens­meldungen nicht entkommen. Wenn etwas besonders Schlimmes geschieht, bricht es wie eine Welle über mich herein, dann summt das Smartphone permanent, weil Familie und Freunde anrufen – wie etwa beim Angriff in Dnipro, bei dem mehr als 40 Zivilisten starben. Es ist ein schreckliches Gefühl, das zu sehen; ich fühle mich hilflos und auch ein wenig schuldig, weil ich ja weit weg und in Sicherheit bin.

Zum Glück sind meine nahen Familienmitglieder nicht mehr von den Angriffen betroffen – aber fast alle Ukrainer kennen Menschen, Freunde und Nachbarn, die ihr Leben verloren haben. Der Krieg spaltet und trennt Familien und Freunde. Einige Verwandte, die in Russland leben, riefen mich am Tag der Invasion an und gratulierten zur russischen „Befreiung“. Sie sind Opfer der Kreml-Propaganda, verführt und geblendet von Putins Demagogen. Auch das schmerzt.

Zeigt sich der Westen zögerlich, betrachten das die Russen als Schwäche.

Lyubov Guk, 32, Venture-Kapitalistin und Gründerin Blue Lake VC

Um mit dieser Tragödie besser umgehen zu können, sammle ich Spenden, unterstütze humanitäre Initiativen, helfe Geflüchteten. Es ist vielleicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber wenn wir alle etwas tun, können wir das russische Biest früher besiegen.

Auch nach der ersten Invasion und der Annexion der Krim im Jahr 2014 hielten viele Ukrainer (mich eingeschlossen) Verbindungen zu Russland aufrecht. Schließlich hatten wir dort Verwandte, wir besuchten uns gegenseitig und machten Geschäfte. Ich verstehe die Mentalität der Russen. Zeigt sich der Westen bei der Unterstützung der Ukraine zögerlich – wie etwa Deutschland bei der Lieferung der Leopard-Panzer –, betrachten das die Russen als Schwäche.

Mit Genugtuung diskutierten Kreml-Propagandisten und ­Regierungsvertreter, wie schwach der „Westen“ doch sei. Dies
könnte Russland ermutigen, den Krieg auszuweiten.

In den vergangenen sechs Jahren habe ich als Geldgeberin in ukrainische Start-ups investiert, Investoren vermittelt und mit meiner Expertise geholfen. Das Tech-Ökosystem des Landes wurde entwurzelt und ist über die Welt verstreut. Was Gründer und Unternehmerinnen verbindet: Sie machen trotz des Kriegs weiter.

Meine Botschaft ist: Inves­titionen in ukrainische Start-ups sind keine Charity-Aktionen – sondern ein Geschäft mit Zukunft. Jene Investoren, die lieber das Ende des Kriegs abwarten wollen, verpassen eine Chance. Die Tech-Firmen der Ukraine brauchen jetzt Geldgeber, nicht erst später.

Ich bewundere die Widerstandskraft meines Volks, die es seit Beginn des Kriegs jeden Tag unter Beweis stellt. Ganz ehrlich: Vor dem Krieg war ich skeptisch, ob die Menschen in der Ukraine diesen beispiellosen Angriff abwehren können. Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.

Wie das ukrainische Volk zeigen auch Gründer eine bewundernswerte Fähigkeit, sich selbst an die schwersten Bedingungen anzupassen. Scheitern ist keine Option. Das gilt auch für unsere Armee. Unsere Soldaten strahlen Hoffnung und Zuversicht aus. Ich habe keinen Zweifel: Die Ukraine wird siegen.

Dima Shvets ist CEO von Reface, Lyubov Guk investiert in die weiterhin aufstrebende Tech-Industrie der Ukraine. Sie hofft, dass internationale Kapitalgeber die Gründerszene gerade jetzt, in Kriegszeiten, unterstützen, und freut sich über Kontaktanfragen. bluelakevc.com

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