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Simon Kälin sucht Extreme: Der Schweizer Medizintechnikstudent hat Erfahrungen unter Wasser, beim Feuerlöschen, im Militär und in der Raumfahrtbranche gesammelt. Er ist überzeugt, dass manche dieser Bereiche mehr verbindet, als es auf den ersten Blick scheint. Europa könnte das für sich nutzen – und Kälin hat eine Idee, wie.
Die Festung Sasso da Pigna auf dem Gotthardpass im Schweizer Tessin stand einst unter strenger Geheimhaltung. 1943 erbaut, diente sie als Kampfanlage und ist mittlerweile zum Museum umgewidmet. Als Simon Kälin die Festung aufsuchte, war sie das Tor in eine andere Welt: Zwei Wochen lang schloss sich eine Gruppe Studenten dort ein, um an einer analogen Weltraummission teilzunehmen. „Das Projekt simuliert auf der Erde, wie Astronauten im Weltraum leben“, so Kälin. Dem Experiment ging wochenlange Vorbereitung voraus, Kälin begleitete sie wissenschaftlich. Einfach war es durch das feuchtkalte Klima in der Festung nicht. „Dann muss man mit dem Team eine Lösung erarbeiten, wie man die Experimente trotzdem durchführen kann“, sagt Kälin.
Das Tüfteln liegt dem jungen Mann, der mitten in seinem Medizintechnikstudium steckt. In einem Krankenhauspraktikum hat er miterlebt, wie das medizinische Personal neue Produkte anwendet. „Ich wollte die Freiheit haben, etwas zu entwickeln“, sagt Kälin. Sein Studium verbindet die Interessen an Technik und Humanmedizin. Groß geworden ist Kälin am Zürichsee. Nach der Matura ging es für ihn, wie für alle jungen Schweizer Männer, zum Militär. Es wurde sein erster Berührungspunkt mit der Arbeit in Extrembedingungen: Kälin diente in der ABC-Einheit, die atomare, biologische und chemische Gefahren aufspürt und entschärft. Ein Teil des Teams leistet Aufklärungsarbeit, ein anderer arbeitet im Labor und ein dritter fährt in die kontaminierte „Hot Zone“, um Feldproben zu nehmen. Kälin entschied sich für Letzteres. Er war zuerst Soldat, dann Wachtmeister. „Es hat mir gefallen, also habe ich weitergemacht und durfte ein Team führen und neue Leute ausbilden“, sagt er. Der schnelle Aufstieg zum Entscheidungsträger war durchaus herausfordernd. „Aber wenn man gute Freunde und Mentoren um sich hat, dann geht das schon“, so Kälin.
Wer denkt, dass Kälins Zeit damit erschöpft sei, irrt. Vier Jahre lang diente er als Gruppenführer bei der Feuerwehr. „Es war gar nicht so einfach, einen Zeitplan zu finden, der mit dem Studium kombinierbar ist“, erzählt er. Damit nicht genug: Auch aus dem Hobby Tauchen wird bald eine größere Leidenschaft. Kälin wurde auf die Global Underwater Explorers (GUE) aufmerksam, eine gemeinnützige Organisation, die spezialisierte Tauchausbildungen anbietet – dort möchte der Medizintechniker als Nächstes mit dem technischen Tauchen und dem Höhlentauchen vertraut werden. Die Ausbildung ist lang und risikoreich. „Das Extreme reizt mich sehr“, so Kälin. Grenzen setzen eher die Ressourcen. Ausbildungen im technischen Tauchen etwa seien sehr teuer. „Manchmal ist es schwer, Prioritäten zu setzen“, sagt Kälin.
Viele Technologien sind sowohl für die Raumfahrt als auch im Kampf gegen den Klimawandel einsetzbar.
Simon Kälin
Den Astronautenberuf sieht Kälin als ultimative Herausforderung für einen Wissenschaftler. „Die Person muss gleichzeitig ein hervorragender Forscher, Ingenieur, mitunter auch Arzt sein“, so Kälin – das reizt ihn. Nach Kälins Zeit beim Militär und seinen Erfahrungen im Rahmen der analogen Weltraummissionen möchte er weiterhin in der Weltraumbranche tätig sein; ob als Astronaut oder in der Forschung, sei noch offen, sagt er. 2022 hat Kälin als erster Schweizer eine zweiwöchige Grundausbildung am International Institute for Astronautical Sciences (IIAS) in den USA absolviert. Geht es künftig erneut in die USA? Kälin hat darauf eine klare Antwort: Er möchte die Schweiz und Europa in ihrer Rolle in der internationalen Raumfahrt unterstützen. Dazu habe auch die aktuelle politische Lage beigetragen, sagt er. Wenn er sich etwas ausmalt, dann ist es ein europäisches Äquivalent zu Space X – damit nicht immer der Blick Richtung USA notwendig ist. „Stattdessen hätten wir ein Produkt vorzuweisen, das in Europa entwickelt wird und auf einem europäischen Innovationskreis basiert“, so Kälin. Oft werde genörgelt, Europa sei nicht innovativ – „ich möchte das nicht akzeptieren, sondern dem entgegenwirken“, sagt Kälin. Es ist eine weitere Herausforderung, die Kälin reizt; ginge es nach ihm, würden sich mehr Menschen für Innovationsprojekte in Europa engagieren.
Kälin selbst macht das bereits. Seit September ist er Teil der Global Shapers, des Nachwuchsnetzwerks des Weltwirtschaftsforums. Dort arbeitet er daran, einen Thinktank aufzubauen, der zwei Felder zusammenführen soll: das All und den Umgang mit Umweltkatastrophen. Angesichts der Herausforderungen, die der Klimawandel stellt, erscheint die Investition in Weltraumforschung vielen als nebensächlich. „Dabei müssen das nicht zwei unterschiedliche Dinge sein“, sagt Kälin. Viele Technologien seien in beiden Feldern einsetzbar. Dazu gehören die Drohnen- und Satellitentechnologie, erzählt er, aber auch das „Remote Medical Engineering“ – medizinische Leistungen abseits des konventionellen klinischen Rahmens, ermöglicht durch Technologie. Sowohl im Weltraum als auch bei Umweltkatastrophen wird Material benötigt, das Extremsituationen standhält. Es muss leicht, robust und verlässlich sein. Das erzeugt Innovationsdruck. „Jetzt braucht es jemanden, der das sieht und diese Bereiche zusammenführen kann“, so Kälin. Drei Aufgaben soll die Denkfabrik erfüllen: über die Synergien von Weltraumtechnologie und den Kampf gegen den Klimawandel aufklären, Innovationen in diesen Bereichen fördern und einen sozialen Fußabdruck hinterlassen. Die Suche nach den idealen Kandidaten für das Advisory Board läuft.

Jetzt braucht es jemanden, der das sieht und diese Bereiche zusammenführen kann.
Simon Kälin
Erfahrung mit der Zusammenstellung und Führung von Teams besitzt Kälin; seinen eigenen Führungsstil auch: „Ich versuche zuerst, das Team zu verstehen, seine Stärken und Schwächen kennenzulernen“, sagt er. Kälin gewinnt gerne einen Überblick, wer wie am besten beitragen kann. „Beim Militär zum Beispiel gab es Laboranten mit jahrelanger Erfahrung. Sie wissen sehr viel besser, welche Feldproben wichtig sind“, so Kälin. Zudem ist er auch bereit, Aufgaben zu delegieren. „Ich glaube, mit diesem Führungsstil war ich gut unterwegs“, sagt er. Es könnte genau dieser Überblick sein, der Kälin bei seiner neuen Aufgabe in die Hände spielt. Zeitlich hat er keine Bedenken: „Ich glaube, ich habe einfach ein wenig andere Prioritäten“, lacht Kälin. „Man sieht mich nie auf einem Konzert oder Festival“, fährt er fort, „das ist einfach nicht mein Ding.“ Wer dem Schweizer begegnen will, muss Mut fürs Extreme beweisen.
Fotos: Lauren Bollhalder, Simon Kälin