Zwischen Wien und Wall Street

Als ihr Chef Monika Rosen die Position als Head of Research anbot, lehnte sie ab. Ein Wochenende später änderte sie ihre Meinung – und blieb über 20 Jahre. Im Gespräch mit Forbes erzählt sie, warum sie zunächst Nein zur Führungsposition sagte, welches historische Ereignis sie am meisten prägte und warum sie weiterhin für Finanzbildung kämpft.

„Ich war die einzige Frau in einer Abteilung voller ­Männer“, sagt Monika Rosen über die Anfänge ihrer mehr als 20 Jahre währenden Karriere als Chef­analystin der Bank Austria. Trotzdem ist sie amüsiert über die Aufmerksamkeit, die ihr aktuell zuteilwird. Mitte August war Rosen in der Ö1-Sendung „Alte weise Frauen“ zu Gast – die Zuschriften, die sie seitdem erhalten hat, sind zahlreich. „Ich bin sehr erstaunt über das lebhafte Interesse an meiner Biografie“, sagt sie; „Frauen schreiben mir, dass sie inspiriert sind.“ Während sie das erzählt, schwingt neben Unglauben viel Freude mit – und das, obwohl Rosen in ihrer Karriere bereits einiges erlebt und ebenso viele Hürden genommen hat.

Heute ist Rosen vielen als Expertin für die Finanzmärkte bekannt, die in der „Zeit im Bild“ Stellung dazu bezieht, wie sich zum Beispiel der Goldpreis entwickelt. Abseits der Börse hat Rosen eine zweite große Leidenschaft: die USA. Als Vizepräsidentin der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft ist sie nicht nur mit der New York Stock Exchange vertraut, sondern auch mit amerikanischen Gepflogenheiten und kulturellen Unterschieden. Bei genauerem Hinsehen ist ihre Affinität zu den USA weniger überraschend als ihre Karriere in der Finanzwelt: Nachdem Rosen an der Universität Wien bereits Literaturwissenschaften studiert hatte, erhielt sie 1986 das Angebot für ein Stipendium an der Georgia State University in Atlanta. Die Mentalität, die sie dort kennenlernte, begleitete sie nach ihrem zweiten Studienabschluss zurück nach Öster­reich. „Do some­thing, even if it’s wrong“ (sinn­gemäß: „Tue etwas, selbst wenn es das Falsche ist“) ist zu ihrem persönlichen Mantra geworden. In der angloamerikanischen Entscheidungslogik existiert schlicht keine Nichtentscheidung – davon ist auch die Börsenexpertin überzeugt. „Wenn ich mich nicht entscheide, entscheide ich mich natürlich auch für etwas, und sei es der Status quo“, sagt sie. Im Verlauf ihrer Karriere hat das für Chancen gesorgt, es ließ sie aber auch anecken.

Eine Rückkehr zur Normalität an der Börse sehe ich nicht. Was soll Normalität überhaupt bedeuten?

Monika Rosen

Dass Rosen nach ihrer Studienzeit in die Finanz­branche eingestiegen ist, lag vor allem an den sehr guten Englischkenntnissen, die sie 1989 mit zurück in ihre Heimatstadt Wien brachte. Rosen bewarb sich bei der kanadischen Royal Trust Bank, die sie in der Wertpapier-Abteilung platzierte. „Ausgesucht habe ich mir das nicht“, so Rosen, „aber gefallen hat es mir sofort.“ Die kanadische Geschäftsbank stand finanziell unter Druck und wurde 1993 in die Royal Bank of Canada eingegliedert, Rosen wechselte ein Jahr später in die Creditanstalt. Internationale Fusionen im Bankensektor waren damals, kurz vor dem EU-Beitritt Österreichs, „noch nicht en vogue“, wie sie selbst sagt.

Ohne die Creditanstalt zu verlassen, hatte ­Rosen bis zu ihrer offiziellen Pensionierung im Jahr 2022 auf dem Papier mehrere Arbeitgeber: 2002 fusionierte die in Österreich nur als „CA“ betitelte ­Creditanstalt vollends mit der Bank Austria (BA), ab 2005 gehörte diese mehrheitlich der Bankengruppe Unicredit. Der Übernahme­prozess durch die BA führte dazu, dass die beiden Banken ihre Research-­Abteilungen bereits Ende der 90er-Jahre zusammenführten. „Die Abteilung bestand aus lauter Männern – und mir“, erinnert sich die Finanzmarktexpertin. Einige dieser Kollegen waren deutlich älter als Rosen, die aus der Perspektive der „Übernommenen“ dazustieß. Ausgerechnet in dieser Gemengelage bot ihr Chef der jungen Frau an, die Position der Head of Research zu übernehmen.

Rosens erste Antwort lautete Nein. Heute schmunzelt sie, während sie darüber spricht – es ist diese Anekdote, die sie in der Öffentlichkeit am häufigsten erzählt. Rosen entschied sich dagegen, die Herausforderung anzunehmen. Doch es kam anders: Über das folgende Wochenende zweifelte Rosen an ihrer Wahl. „Am Montag habe ich zu meinem Chef gesagt: ,Ich mache das jetzt doch‘, und er hat geantwortet: ,Das haben wir uns schon gedacht!‘“, sagt sie. Die ersten sechs Monate als Chefanalystin der Bank waren nicht einfach – dass darauf mehr als 20 weitere Jahre folgten, dürfte neben ihrer wachsenden Expertise vor allem ihrem Kampfgeist geschuldet sein. „Ich habe nur eines gewusst: Das ziehe ich durch“, so Rosen. Die Personalabteilungen österreichischer Unternehmen waren in den späten 90er-Jahren eher administrativ als strategisch aus­gerichtet, Themen wie Diversität und Inklusion sollten erst später Einzug halten. Dass nicht jede Person bereit war, in vergleichbar kaltes Wasser zu springen, dafür hat Rosen Verständnis: „Wenn zehn Eigenschaften verlangt sind und eine Frau bringt acht davon mit, fragt sie sich, ob sie geeignet ist“, so Rosen; „ein Mann mit zwei davon hält sich für den idealen Kandidaten.“

Ihr Durchhaltevermögen und ihre Faszination für das Börsengeschehen führten dazu, dass sich die Finanz­expertin nach ihrem herausfordernden Einstieg schrittweise behaupten konnte. Als Chefanalystin trug Rosen die Verantwortung für den Anlageausschuss der Bank. Die Börse begreift sie als Fenster zur Welt: Alles, was auf der Welt passiert, spiegle sich an den Kapitalmärkten wider. „Sie können das Weltgeschehen durch das Prisma des Finanzmarkts betrachten“, sagt Rosen. Viele historische Ereignisse der vergangenen 25 Jahre hat die mittlerweile pensionierte Börsenkennerin auf diese Weise zweimal miterlebt: als Privatperson und als Head of Research einer der größten Banken des Landes. ­

Es ist wichtig, allen – ­Frauen wie Männern – klarzu­machen, dass sie ihr eigenes ­finanzielles Schicksal in die Hand nehmen müssen.

Monika Rosen

Besonders der 11. September 2001 brannte sich in ihr Gedächtnis ein: Die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York hat sie nicht nur als Angriff auf die westliche Wertewelt verstanden, ­sondern „vor allem auch als Angriff auf das Finanzsystem“, erzählt Rosen. Die Tag und Nacht arbeitenden Bloomberg-Computer, noch heute die wichtigste Informationsquelle für Finanzjournalisten, verstummten. „Das ist vorher und nachher nie wieder passiert“, so Rosen.
Für einen kurzen Zeitraum gab es schlicht nichts, über das berichtet hätte werden können. Die Finanzmarkt­expertin spricht über den emotionalen Tag der ­Wiedereröffnung der Börse, sie erinnert sich an ihren Dauer­einsatz am Höhepunkt der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 – doch kaum ein welt­politisches Ereignis hat Rosens Laufbahn mehr geprägt als der Moment, in dem die Börse stillstand.

Angesprochen auf die Turbulenzen, die die Börsen in den vergangenen Monaten dominierten, möchte die Finanzexpertin nicht über eine Rückkehr zur Normalität diskutieren. „Die Rückkehr zur Normalität an der Börse sehe ich nicht“, sagt sie. „Was soll Normalität überhaupt bedeuten?“

Nach rund 15 Jahren, in denen US-Aktien im Vergleich zu anderen Börsentiteln eine deutliche Überperformance gezeigt haben, ist Rosen nicht die Einzige, die den Beginn einer grundlegenden Veränderung wittert. Das Analysehaus Morningstar und die Investmentbank Morgan Stanley etwa wiesen zuletzt darauf hin, dass ein dermaßen starkes Momentum historisch gesehen zu einer Gegentendenz führt. Die immer noch massive Konzentration des globalen Börsenkapitals in einer Handvoll US-amerikanischer Technologie-Aktien sieht Rosen kritisch; kritischer als den Einfluss von US-Präsident Donald Trump, dessen Politik die Börsenteilnehmer immer wieder in Atem hält. „Trump ist sehr wichtig für die Börse, aber die Gewinne der Unternehmen sind es auch“, sagt sie. Ihr Vertrauen in die Institutionen sei ungebrochen – auch in die Institution US-Dollar: „Ich glaube absolut nicht, dass seine Stellung als internationale Leitwährung ­gefährdet ist.“

Anlegern rät die Kapitalmarktexpertin, in der zu­nehmend multipolaren Weltordnung keine vor­schnellen oder emotionalen Entscheidungen zu treffen. In dieser komplexeren Börsenwelt sieht sie zumindest einen Vorteil für Anlegerinnen: „Frauen drehen das Portfolio weniger oft als Männer – dadurch generieren sie weniger Spesen und oft eine bessere Performance“, erklärt Rosen. Dennoch gibt es bei der Finanz­bildung in Österreich noch viel Luft nach oben; gerade auch bei Frauen, wie die Studien der Oesterreichischen National­bank, des Bundesministeriums für Finanzen und privater Auftraggeber wie Mastercard verdeutlichen. Eine im März 2025 veröffentlichte Analyse von Raiffeisen Capital Management mit dem Titel „Frauen & Geldanlage“ bestätigt, was auch Rosen anmerkt: Noch besteht gerade bei Frauen Aufholbedarf im Bereich Finanzwissen.

Das möchte die Expertin – wie andere Umstände im Lauf ihrer Karriere – nicht einfach hinnehmen: „Ich kämpfe für die Finanzbildung für Frauen“, sagt Rosen. Frauen müssten wissen, wo wichtige Unterlagen zu finden sind, welche Auswirkungen bestimmte Ent­scheidungen mit sich bringen. „Es ist wichtig, ­allen – Frauen wie Männern – klarzumachen, dass sie ihr ­eigenes finanzielles Schicksal in die Hand nehmen ­müssen“, sagt Rosen. Diese Überzeugung ist ein Grund, weshalb sie seit ihrer Pensionierung vor drei Jahren nicht kürzertritt: Die frühere Chef­analystin betreibt Medienkooperationen, veröffentlicht regelmäßig Beiträge im Digitalmedium Newsflix und spricht auf Veranstaltungen. Die nächste Bühne ist inter­nationaler Natur: Ab dem kommenden Jahr wird Rosen mit dem britischen Consulting-Unternehmen Emergn zusammen­arbeiten, wie sie exklusiv im Gespräch mit Forbes verrät. „Angelsächsischer Raum mit Berührungs­punkten zur Finanzdienstleistungsbranche – das ist genau das Richtige für mich“, sagt die Börsenexpertin.

Dieses Interesse spiegelt sich auch in ihrem Engagement als Vizepräsidentin der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft (ÖAG) seit 2021 wider. Der Verein beschreibt sich als „Plattform für all jene, die an einer Vertiefung wechselseitiger Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der ­Republik Österreich interessiert sind.“ Zuletzt veranstaltete die ÖAG mehrere Gesprächsabende zum Wandel der Medien­landschaft und zu gesellschaftlichen Um­brüchen in den USA. Neben ihrer Leidenschaft für den Kapitalmarkt kann Rosen dort an ihre langjährige Faszination für die Vereinigten Staaten anknüpfen – und bleibt sich selbst treu: Schon während Rosens Zeit in der Bankenbranche ging es ihr nicht darum, Vor­reiterin zu sein – sie folgte einfach ihrer Leidenschaft. „Ich war die einzige Frau im Anlageausschuss und habe ihn geleitet“, sagt Rosen. „Das wurde mir erst bewusst, als mich jemand darauf hingewiesen hat.“ Diese unprätentiöse Art, ihren Weg zu gehen, zeichnet Monika Rosen bis heute aus.

Fotos: Gianmaria Gava

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