Ganz schön hell

Tamara Gerbert ist Gründerin und Managing Director von Brightmind AI, einem Wiener Start-up, das ein Headset gegen Migräne entwickelt. Menschen, die an der weitverbreiteten Krankheit leiden, sollen durch kurzes tägliches Tragen des Brightmind-Headsets die Zahl der Migräneanfälle um mindestens 50 % verringern können. Das Unternehmen hat bereits üppige Fördergelder erhalten.

Eine scheinbar ewige Treppe schraubt sich zwischen engen Wänden einige Stockwerke hinauf, in einem alten Haus in der Sonnenfelsgasse im ersten Bezirk in Wien. Tamara Gerbert steht am Absatz der Treppe und begrüßt uns: „Jaja, wir haben keine Altersbegrenzung – aber man muss erst mal die Treppen schaffen!“ Wer die Stufen erklimmt, erwartet ein mittelalterliches Museum oder vielleicht ein Atelier, stattdessen empfangen uns junge Menschen hinter Computern, Whiteboards und metallenen Regalen mit jeder Menge an Gegenständen, etwa Spulen und Drähten. Eine gelbe Leuchtreklame an der Wand informiert: „Brightmind AI“. Ein kleines Gehirn ist Teil des Logos. Gerbert selbst kocht Kaffee in der Küche, denn freitags sind nur ein paar der zehn Mitarbeiter – zwei Senior Electrical Engineers, ein KI/Software-Engineer, ein CTO, ein Mechanical Engineer und ein R&D-Engineer – im Büro.

Das Produkt, das sie ent­wickeln, dient der Behandlung von Migränepatienten und hat zwei Bestandteile: eine Art Kopfhörer und eine wie ein Haarreif auf­setzbare Spule. Die Kopfhörer sind in der Tat normal funktionierende Musik-Kopfhörer mit Trocken-EEG-Elektroden – denn es gebe Erkenntnisse, so Gerbert, dass man anhand dieser EEG-Daten 24 Stunden im Vorfeld eine Migräne­attacke erkennen könne. Die Kopfhörer sind leicht und kabellos, damit man sie täglich verwenden kann, auch mehrere Stunden lang; so lässt sich eine Datenbank auf­bauen. Gerbert: „Das nützt natürlich nur etwas, wenn man das Gerät möglichst oft aufhat und wir viele Daten erheben können.“ Eine wichtige Rolle spielt dabei KI. „Die Protokolle, die es jetzt gibt, wurden relativ unsystematisch und durch Austesten gefunden. Man nutzt bekannte Frequenzen und Hirnregionen, nur ein Bruchteil wurde überhaupt angeschaut. Deswegen ist es für uns eben auch sehr relevant, nicht nur zu stimulieren, sondern zu messen, um ein besseres Verständnis aufzubauen: Wo und bei welcher Frequenz wirkt die Stimulierung am besten? Bei wem genau wirkt es? Wieso wirkt es?“

Das Vorhersagen einer Mi­gräne­­attacke ist die erste Hälfte des angestrebten Prozesses – die zweite ist das präventive Ver­meiden des Kopfschmerzes. Dazu stimuliert die Spule eine bestimmte Region am Kortex, womit man die abnormale kortikale Erregbarkeit normalisieren kann und es erst gar nicht zur Attacke kommt. „Genauer gesagt kreiert man ein starkes Magnetfeld, aber mit nur sehr kurzen, frequenzspezifischen Pulsen, und erzeugt so ein elek­trisches Feld im Wunsch-Hirn­areal. Unsere Relevanz scheint im Vergleich zu anderen Methoden relativ gut zu sein“, sagt Gerbert. Derzeit ist das Protokoll noch nicht öffentlich. Gerbert nimmt aber Bezug auf eine Metastudie, die demonstriert, dass TMS (Trans­kranielle Magnetstimulation) präventiv am effektivsten ist.

Die Zusammenfassung der drei wissenschaftlichen Studien, die ihr Protokoll ver­wenden, sagt aus, dass bei 90 % der chronischen Migränepatienten durch die noninvasive Stimulation mehr als 50 % der Attacken ver­mieden werden können.

Noch arbeitet Gerberts Team an dem Produkt und entwickelt es weiter. Sie hofft, es 2026 auf den Markt bringen zu können. Den ersten Prototyp testete das Team in einer Pilotstudie, um zu sehen, ob das Gerät sicher anwendbar und wirksam ist. Die zweite und größere Studie macht Brightmind AI mit dem Universitätsklinikum AKH in Wien. Mit diesen Daten will sich das Team um die regulatorische Zulassung bemühen, sowohl in Europa als auch in den USA. „Wir müssen einen langen Atem haben“, weiß Gerbert und seufzt.

Sie und ihr Co-Founder Florian Lerchbammer-Kreith, der inzwischen im Beirat des Unternehmens sitzt, haben sich keinen leichten Markt ausgesucht. Sie wollen ein kompliziertes Produkt verkaufen, das vor allem Laien kaum verstehen und das vielen Regularien unterliegt, was auch die Investorensuche verkomplizieren kann. Gerbert ist hierzu realistisch und sehr reflektiert: „Wenn ich jetzt selbst mein Geld irgendwo rein­stecken würde, würde ich eigentlich gerne alles ganz genau verstehen. Das kann man bei diesem Produkt aber nicht. Und das ist etwas, was manche Leute tatsächlich abschreckt.“ Sie weiß: Als Venture-­Capital-Case, bei dem man auch aufzeigen muss, dass man relativ schnell zu einem Unicorn (also einem Start-up mit einer Bewertung von über einer Mrd. US-$) heranwachsen wird, ist ein Medizin­produkt, das noch nicht am Markt ist, nicht ganz einfach.

Brightmind AI hat inzwischen 2,1 Mio. € an Kapital aufgestellt – unter anderem durch den Investor Xista Science Ventures sowie durch zusätzliche Fördermittel. Ingrid Kelly Spillmann, Partnerin bei Xista, kom­mentiert: „NIBS-Protokolle sind hochwirksame Behandlungen für neurologische und psychiatrische Störungen, die derzeit nur einer kleinen Anzahl wohlhabender Patienten in ausgewählten Krankenhäusern und Kliniken zur Ver­fügung stehen. Wir unterstützen die Vision von Brightmind AI, diese Therapien erschwinglich und für alle zugänglich zu machen, die davon profitieren könnten. Brightmind AI ist mit seinem hoch­karätigen Gründerteam eine groß­artige Ergänzung für unser wachsendes Portfolio von Start-ups aus den Bereichen Neurowissenschaften und Neurotechnologie.“

Die Fördermittel, die Brightmind AI erhalten hat, stammen unter anderem von der Förderbank Austria Wirtschaftsservice (AWS). Zur Summe sagt Gerbert nur: „1,5 Millionen mehr, als wir an VC-Geld erhalten haben.“

Diese stolzen Summen sind auch einer der Hauptgründe, warum das Start-up sich Wien als Standort ausgesucht hat. Die Förderlandschaft sei gut; neben Zürich und London sei Wien tatsächlich einer der Life-Science-Hubs in Europa, sagt Gerbert. „Die Summen sind für einen Bereich, der dann doch forschungslastig ist, und für ein Produkt, mit dem man noch nicht am Markt ist, sehr relevant.“

Gerbert und ihr Team scheuen nicht vor Regularien und der Kom­plexität eines Medizin­produkts zurück, sie wagen sich auch un­erschrocken in einen Markt, in dem sie mit besonders mächtigen Playern in Konkurrenz treten – denn nor­malerweise haben Pharmaunternehmen eine Antwort auf Kopfschmerzen und Migräne: in Form von Schmerzmitteln oder Anti­depressiva. Und dann gibt es noch eine invasive Behandlungsmethode: Botox-Spritzen in die Stirn. „Klar, je größer der Markt, desto größer die Player“, ist sich Gerbert bewusst. Mit 5,77 Mrd. US-$ war der globale Migränemarkt 2023 ein sehr großer. Gerbert aber sieht Medikamente als ergänzend zu ihrer Therapieform. In der Kollaboration mit Ärzten seien außerdem andere Märkte besprochen worden: „Manche rieten uns, dass wir doch mit einem anderen chronischen Schmerz­bereich anfangen sollten.“ Es gebe viele Indizien, dass man mit dem gleichen Protokoll, das Brightmind AI anwende, auch anderen chronischen Schmerzen entgegenwirken könne; „eine Nische, in der die Konkurrenz einfach viel weniger massive Player hat“, sei gemeint. Mächtigen Einfluss haben natürlich die Ärzte – auf lange Sicht sei es erstrebenswert, dass Neurologen ihren Migränepatienten das Headset empfehlen, da dann auch die Ak­zeptanz eine bessere sei.

Ich bin der Meinung, dass wir in der Lösung neurologischer Probleme auch in 20 Jahren noch relevant sein werden.

Tamara Gerbert, Gründerin und Managing Director Brightmind AI

Nicht nur Investoren sind zurückhaltend – Hirnstimulation ist vielen fremd. Gerbert: „Ich habe bereits mit Florian über die Folterszene im Film ‚Einer flog über das Kuckucksnest‘ gescherzt. Da nutzen sie offensichtlich Hirnstimulation, um zu foltern. Der Ruf unserer Methode ist durch solche Darstellungen eher schlecht. Die erste Frage, die man bekommt, ist oft, ob es wehtut.“ Tut es nicht, sagt Gerbert – aber das Vertrauen in die Methode müsse bei den Patienten erst wachsen. Es seien viele Felder interessant für den Einsatz des Headsets; Demenz zum Beispiel, oder andere neuro­logische Krankheiten. Doch sie wollten erst einmal mit der Volkskrankheit Migräne beginnen, sagt Gerbert. Ihre Mutter habe oft Migräneanfälle, sie selbst sei weitestgehend verschont geblieben.

Was Tamara Gerbert noch mehr ­umtreibt, ist ihre Faszination für das menschliche Gehirn. Die Tochter einer Ägypterin und eines Deutsch-Portugiesen hat Neuro­wissenschaften und künstliche Intelligenz studiert. Sie findet Menschen „neurologisch spannend“. An der Uni konnte sie bereits ein Netzwerk aus Kontakten auf­bauen, dann begann sie bei einer Forschungsgruppe in San Francisco, Adam Gazzaleys Neuroscape Lab. Da habe sie zum ersten Mal sehr ­leidenschaftlich in der Forschung etwas entwickelt. Gearbeitet hat Gerbert an der Datenerfassung und -analyse für verschiedene Projekte im Bereich der Hirnstimulation. In der Forschung bleiben wollte sie trotz großen Interesses nicht, weil sie auch die Auswirkungen ihrer Erkenntnisse sehen wollte. Deswegen gründete sie das Start-up, „um einen Impact sehen zu können“. Sie konnte in der Pilotstudie beobachten, dass das Headset chronischen Migränepatienten hilft. Sie selbst bevorzuge „physische Dinge, etwas zum Anfassen“. In ihrer Freizeit malt sie gerne; das Handfeste kommt also auch da zum Tragen.

Außerdem entspannt es Gerbert – denn natürlich gibt es in dem jungen Unternehmen viele stressige Phasen. Um das alles zu überstehen, umgibt sie sich in der Freizeit mit Freunden. Pausen sind ihr wichtig: Am Nachmittag gönnt sie sich gerne einen Tee, wenn die Mittagspause zu knapp ausgefallen ist. „Ich weiß, unter Gründern ist es en vogue, am Wochenende zu arbeiten. Ich vermeide genau das.“ Mit ihrem Vorhaben – den Migräne­markt in Europa und den USA zu revolutionieren – dürften Pausen jedenfalls unabdingbar sein, um einen langen Atem zu haben.

Tamara Gerbert hat an fünf weltweit führenden Forschungseinrichtungen im Bereich der Neurowissenschaften geforscht und dabei nicht invasive Hirnstimulation im geschlossenen Regelkreis, EEG-Vorverarbeitung in Echtzeit, MRT-Datenanalyse und Verbesserung der Kognition eingesetzt.

Sie hat es geschafft, mit KI, Computer Vision und Deep Reinforcement Learning mehrere neurologische Erkrankungen erfolgreich vorherzusagen.

Gerbert hat zudem einen MRes in Neuroengineering vom Imperial College London und einen BSc vom King’s College London.

Fotos: Tabea Magdalena Martin

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Deputy Editor in Chief

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